Geschichte

Ostpreußen: Ein Platz der Versöhnung, der Fantasie und der Hoffnung

Warum würde ein Engländer ein Buch über Ostpreußen schreiben?  Von meinem Heimatland aus ist das der am weitesten entfernte Platz in Europa. Es ist ein Land, das auf einer modernen Landkarte nicht vorhanden ist.

Darf ich erklären, wie meine Faszination anfing? Es begann in einem Hotelzimmer in München vor etwa vierundzwanzig Jahren, als ich eine Fernsehsendung über die deutschen Siedlungen in Mittel- und Osteuropa sah. Die Sendung fing mit den Kreuzzügen im Norden an und führte von dort aus weiter. Hier gab es eine Welt, über die ich fast nichts wusste – obwohl ich europäische Geschichte studiert und darüber geschrieben hatte. Dieses Gebiet schien mir eine große Bedeutung zu haben, die wir in Britannien, mit Ausnahme weniger Gelehrter, uns nicht genug bemüht hatten zu verstehen.  

Ich las weiter und lernte einiges über die Veränderungen und die Menschen, über die Bedrängnisse und das Seelenleben. Alles das, so dachte ich, machte die Stimmung dessen aus, was einst Ostpreußen war. Der Wechsel von Königsberg zu Kaliningrad schien mir ein bemerkenswertes Experiment zu sein, das nicht nur die Einverleibung der preußischen und deutschen Stadt in die Sowjetunion betraf, sondern auch den Versuch enthielt, einen völligen Bruch mit der Vergangenheit zu vollziehen.

Inwieweit ist so ein Bruch möglich?

Als ich 1991 hier meinen ersten Besuch machte, als ich aus dem Bahnhof trat, als ich aus einem Bus einen flüchtigen Blick auf die damalige Ruine des Doms werfen konnte, als ich zum ersten Mal sah, was – glaube ich – heute noch immer „das Monster“ genannt wird, da kam es mir so vor, als sei ich an einen sehr sonderbaren Ort gelangt. Als Engländer fühlte ich mich wieder einmal übermannt durch unsere Insellage. Wir sind von so viel Aufruhr  auf dem europäischen Kontinent abgesondert geblieben. Wie könnte ich die Umwälzungen begreifen, die hier stattgefunden haben? War es anmaßend von mir, das auch nur zu versuchen?

I hatte das Gefühl, dass ich damit anfangen müsse, nicht nur über das, was 1945 geschehen ist, hinauszugehen, sondern über die nationalen Eigenarten.

Der deutsche Dichter aus dem zwanzigsten Jahrhundert Johannes Bobrowski, der aufgewachsen ist, wo damals das deutsche Ostpreußen und Litauen waren, schrieb über alte Naturbewegungen quer durch eine weite Landschaft. Bobrowski blickte auf Sarmatien zurück, auf eine teilweise mythische Welt, die sich von der Weichsel und der Donau bis zur Wolga und dem Kaukasus erstreckte, bis zu Beginn der christlichen Zeitrechnung die Goten kamen. Es war eine Gegend, in der Nomaden und Jäger durch eine weite Landschaft wanderten und ihre Bäume, Wälder und Flüsse anbeteten.

In Tilsit, heute Sowjetsk, im Jahre 1917 geboren, wuchs Bobrowski in einer Vielfalt von Kulturen auf. Er kam mit Juden, Litauern, Polen und Deutschen zusammen, vor allem als Kind während seiner Besuche auf dem Hof seiner Großeltern jenseits der Grenze in Litauen. Als deutscher Soldat an der Ostfront erlebte er später das Ende der Anerkennung von Verschiedenartigkeit, als die Nazis Deutschland in einen verdrehten Nationalismus von Rassenüberheblichkeit und -verachtung führten.   

Aber Bobrowski wusste auch, dass das Land überdauern würde, was da geschah. Er wusste, dass nach dem Abzug der Armeen die Wölfe immer noch über die Lichtungen streifen, dass der Schnee, das Tauwetter und die kurzen heftigen Sommer immer wiederkommen würden. Die Namen der Städte und Dörfer könnten sich ändern. Aber das Land würde bleiben, gezeichnet von der Geschichte, aber sie auch in sich aufnehmend.

Als der russische Dichter Josef Brodsky in den 1960er Jahren nach Kaliningrad kam, schrieb er, dass die Bäume noch auf Deutsch flüsterten, sogar in dem wiederaufgebauten Zentrum, wo die Sowjets nach dem Krieg versuchten, auf den von den britischen Bomben hinterlassenen Ruinen ein kommunistisches Utopia zu errichten.        

Wenn die Geschichte nicht eine vielschichtige, mannigfaltige Vergangenheit respektiert, ist sie dann nicht reine Fantasie? Ihre Vielschichtigkeit und ihr Reichtum sollten nicht durch einen rohen Nationalismus grob vereinfacht oder verkleinert werden. Kristijonas Donelaitis war ein großer Dichter des achtzehnten Jahrhunderts, der in Tollmingkehmen (heute Chistye Prudy) als Pfarrer lebte. Er predigte auf Deutsch und Litauisch, was unter der preußischen Herrschaft gestattet war. Donelaitis trieb die literarische Wiedergeburt Litauens an. Sein berühmtestes Gedicht schildert die plötzlichen Veränderungen der baltischen Jahreszeiten wie eine gewaltsame Sprengung der Fantasie: 

„Wiederum stieg die Sonne herauf und weckte die Welt auf,
Lachte der Werke des kalten Winters und warf sie in Trümmer.
Leicht mit dem Eise zerrann, was der Frost phantastisch erbaute …“

So bringen das Land und seine Jahreszeiten Wirklichkeit hervor.

Für einen insularen Engländer ist dieser Teil Europas anfangs schwer zu durchdringen. Grenzlinien sind verschwommen, Namen können trügen. Manche Städte und Dörfer im Kaliningrader Gebiet (oder Oblast) haben drei mögliche Namen: „Mein Litauen!“ schreibt Adam Mickiewicz am Anfang eines langen Gedichts, das im neunzehnten Jahrhundert ein Schlachtruf des polnischen Nationalismus wurde.

Johannes Bobrowski erinnerte sich an die Deutschordensritter und den Kreuzzug im Norden, der das Christentum und die Unterwerfung der Ureinwohner, der heidnischen Pruzzen brachte. Man denkt auch an das multinationale polnisch-litauische Reich, eine vorherrschende Macht im späten mittelalterlichen Europa, dessen König der preußische Herzog Albrecht im sechzehnten Jahrhundert huldigte.

Diese Geschichte von Menschen, die sich vermischten, von Persönlichkeiten,  die versuchten, eine Eroberung zu überleben, erzählt von Duldsamkeit und Angst, von Grausamkeit und Heldentum. Sie erzählt uns, glaube ich, viel über die Furcht, die jene quälte, die das Gefühl hatten,  isoliert am äußersten Rand Europas zu leben. Die Ostpreußen hatten diese Angst, denn seit der Zeit der nördlichen Kreuzzüge war ein Mythos entstanden. Das hier, dachte man, ist der Platz, wo die westliche Zivilisation endet.

Das preußische und das deutsche Ostpreußen war eine Kette von Widersprüchen. Es war ein Rekrutierungsfeld für das alte Offizierskorps, die Heimat der Junker, deren Vorfahren den nördlichen Kreuzrittern nach Osten gefolgt waren und die bis zum Zweiten Weltkrieg in einer halbfeudalen Welt lebten.

Aber Ostpreußen war ein Zufluchtsort für die Verfolgten: für Juden, die russischen Pogromen entkamen, für aus Salzburg oder aus Frankreich vertriebene Protestanten, für schikanierte deutsche freikirchliche Sekten: auch das Land Kants und Herders, philosophischer Gegner von Militarismus und Eroberungsgeist. Keiner der beiden Philosophen akzeptierte die groben Vereinfachungen des Nationalismus. Was ist eine Nation? fragte Herder. „Ein großer, ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut.“

Ostpreußen war ein Platz, wo die europäische Geschichte sich änderte. Immanuel Kants philosophische Revolution – die eine Brücke zwischen der  Aufklärung und der Romantik bildete – begann in Königsberg. Kant war international. Er konnte Französisch und Englisch und bewunderte den schottischen Philosophen David Hume. Die Kritik der reinen Vernunft las er seinem besten Freund vor, dem englischen Kaufmann Joseph Green. Obwohl Kant Ostpreußen nie verließ, waren seine Werke in ganz Europa bekannt. Von 1758 bis 1762 wurde aus ihm ein Bürger Russlands, als die Russen Königsberg besetzten. Russische Offiziere kamen zu seinen Vorlesungen.

Die Schlacht von Preußisch Eylau, die vor 206 Jahren stattfand, bedeutete einen Rückschlag für Napoleons Versuch, Europa zu beherrschen. Es waren die Russen, die ihm Einhalt geboten, unter einem General deutscher Abstammung. Dort  kämpften die Preußen. Das weit entfernte Britannien war verbündet mit Russland und mit Preußen.

Für den Schriftsteller Alexander Solschenizyn konnte das deutsche Ostpreußen nicht vergessen werden. Seine Zeit dort am Ende des Krieges als Offizier in der Roten Armee gab ihm einen kurzen Eindruck eines ihm vorher unbekannten Westens. Er war der Ansicht, dass sich in Ostpreußen ein Schlüsselmoment ereignet hatte, ein „Knotenpunkt“ (wie er es nannte) im Schicksal Europas. Der Feldzug vom August 1914, als die Russen in Ostpreußen eindrangen und bei Tannenberg besiegt wurden, kündigte für Solschenizyn nicht nur den letztendlichen Zusammenbruch der Deutschen an, da er ihre hochmütige Einstellung zum Krieg ermutigte, sondern ebenso eine Verstärkung der russischen Hoffnungslosigkeit, die zu der Revolution von 1917 führte.

Soschenizyn kam im Sommer 1967 wieder nach Kaliningrad, auf der Suche nach Atmosphäre für seine Romanserie über den Ersten Weltkrieg und die Revolution, deren erster Band August 1914 ist. Er wollte sehen, wo sein Vater in diesem unheilvollen Feldzug gekämpft hatte, und sich noch einmal den Ort ansehen, wo seine eigene Artillerieabteilung 1944 und 1945 gewesen war. 

Das Land war jedoch nach 1945 geteilt worden; deswegen lagen einige Schlachtfelder jetzt in dem neuen Polen, und er konnte die Grenze nicht überschreiten. Aber die Städte und Dörfer und die einstmals gut entwässerten Felder des ehemaligen Nord-Ostpreußens hatten nicht den soliden Eindruck verloren, an den sich Solschenizyn aus der Zeit vor zwanzig Jahren erinnerte, und ebenso nicht Kaliningrad, trotz seines zerstörten Zentrums. In dem Grabmal Kants und den alten deutschen Häusern spürte der Romancier Jahrhunderte einer stolzen Geschichte und bürgerlicher Sorgfalt.

Das Land war immer ein Platz der Bewegung und Vielseitigkeit gewesen. Im deutschen Ostpreußen betrieb man vor allem Landwirtschaft, mit etwas Industrie in Königsberg, das auch einen großen Hafen hatte. Im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert verminderten sich die Arbeitsplätze auf den Gütern, und viele Ostpreußen zogen nach Westen, um in den schnell wachsenden Industriegebieten Deutschlands Arbeit zu suchen. Es gab immer Minderheiten: Polen, Litauer und in Königsberg eine wohlhabende jüdische Gemeinschaft. Der Ostseehandel brachte die Welt nach Königsberg. Britische Kaufleute siedelten sich an, und einige von ihnen wurden Kants Tischgenossen. Ein Teil des Hafens von London wurde wie eine Handelsniederlassung von Königsberg betrachtet.

Als 1945 der südwestliche Teil Ostpreußens an das neue Polen angeschlossen wurde, konnten die Polen glauben, dass sie in ein Gebiet kamen, das in deutschen und preußischen Zeiten eine bedeutende polnische Minderheit aufwies, die der letzte deutsche Kaiser als „unsere Polen“ bezeichnete. Die sowjetische Besitznahme von Königsberg und dem Norden war etwas anderes. Die Umbenennung der Stadt im Juli 1946 symbolisierte mehr als eine Russifizierung. Kaliningrad bedeutete die Umwandlung eines preußischen militaristischen Bollwerks, wie die neuen Herren es sahen, in ein sowjetisches Utopia.

Sowjetbürger wurden ermuntert, sich in dem neuen Gebietsstreifen, der Kaliningrader Oblast, anzusiedeln. Man gab ihnen eine kostenlose Hinfahrt, versprach ihnen ein Haus und Steuerfreiheit für einen bestimmten Zeitraum. Viele, die kamen, waren Witwen mit Kindern; beim ersten Anblick der Ruinen waren sie oft so erschüttert, dass sie, ohne aus dem Zug auszusteigen, wieder abfahren wollten. 1946 dachten einige in der neuen russischen Verwaltung, dass die ungeheure Zerstörung einen Wiederaufbau unmöglich mache und die Ruinen als ein Mahnmal für die Toten des Großen Vaterländischen Krieges stehenbleiben sollten. Steine und Ziegel wurden weggeschafft, um sie bei der Wiederherstellung anderer sowjetischer Städte zu benutzen.

Königsberg war ein Symbol für die christliche Eroberung gewesen. Die Festungsanlagen aus dem 19. Jahrhundert bewahrten das Gefühl einer mythischen Belagerung. Nun schlug ein neuer Symbolismus Wurzeln, der eines heldenhaften Platzes, des endgültigen Sieges: eine schwer gewonnene Festung gegen Kapitalismus und den Westen. Kaliningrad muss ein revolutionäres Utopia werden. Es sollte die letzte Niederlage des preußischen Militarismus darstellen. Aber die Gräber von Russen hatten sich zu denen der Preußen und Deutschen und Polen gesellt. Der Boden und die Geschichte der Stadt enthielten die Toten mehrerer Nationen.

Die ersten deutschen Nachkriegsbesucher kamen in den späten 1980er Jahren, nach dem Ende des Kommunismus. In ihren Erinnerungen hatte die Vergangenheit überlebt. Einige waren entschlossen, Hilfe zu leisten, um eine taktvolle Auferstehung herbeizuführen. Wie mir scheint, begannen auf diese Weise in den frühen 1990er Jahren in Kaliningrad zwei Prozesse, eine Wiederentdeckung der preußischen Geschichte und eine Anerkennung der russischen Identität.

Die Sowjets hatten daran gedacht, die Ruinen des Doms, Grabstätte von Hochmeistern des Deutschen Ordens und der ersten preußischen Herzöge, in ein Massengrab für die Soldaten der Roten Armee zu verwandeln, die beim Sturm auf Königsberg ums Leben gekommen waren. Nun aber wurde der gotische Bau aus Ziegelsteinen wiederaufgebaut. Der Dom ist teilweise durch Kants Grab gerettet worden, das die Russen respektierten. Auf wundersame Weise hat dieses Grabmal mit seinem neoklassischen Baldachin auch die gewaltigen, zerstörerischen britischen Bombenangriffe des Jahres 1944 überstanden.

Der große preußische Philosoph hat daher für die Auferstehung eines der größten geistlichen Ziegelbauten in Europa gesorgt, Symbol eines Glaubens, von dem er nicht allzu viel hielt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Kant mochte die Sehnsucht nach Vergangenem nicht. Er bestritt, dass es jemals ein goldenes Zeitalter gegeben habe. Aber er war für internationale Versöhnung. Königsberg und Kaliningrad zusammenzubringen, ist eine seiner Leistungen.  

Sehnsucht nach der Vergangenheit ist mächtig. Die Gedichte von Agnes Miegel machen aus dem, was einst war, ein schönes Fantasiegebilde. Für Marion Dönhoff, Schriftstellerin, Journalistin und ostpreußische Adlige, schien die Vergangenheit ebenso schön, doch jetzt unerreichbar. Man muss das Land lieben, ohne es zu besitzen. Das ist, meine ich, eine realistische Auffassung von Verlust.

Ist es die beste Art von Versöhnung? Kant wäre damit sicherlich einverstanden gewesen, mit seinem Gefühl für Internationalismus. Kaliningrad ist jetzt der am weitesten westlich gelegene Teil Russlands. Aber uns umgeben überall Beweise für seine deutsche und preußische Vergangenheit, nicht zuletzt bei Anlässen wie diesem, wenn man beschließt, Menschen zusammenzubringen. Ist es zu optimistisch zu empfinden, dass wir schon über die Fantasie hinausgegangen und zu Versöhnung und zu Hoffnung gelangt sind?  

© 2013 Max Egremont

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