Geschichte

Hannah Arendt und Königsberg

Im Begleitheft der DVD mit Margarethe von Trottas Film „HANNAH ARENDT“ steht ein kurzer Lebenslauf der Philosophin. Er beginnt mit den folgenden Sätzen: 

HANNAH ARENDT wird am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren und wächst in einem sozialdemokratischen, jüdisch-assimilierten Elternhaus auf. Sie studiert Philosophie und Theologie in Marburg und Freiburg. Edmund Husserl und Martin Heidegger gehören zu ihren Professoren. 

In den Büchern des Piper-Verlages, der Hannah Arendts Werke auf Deutsch herausgebracht hat, heißt es über ihr Leben: 

Hannah Arendt,  am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Heidegger, Bultmann und Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte.

Königsberg kommt in beiden Kurzbeschreibungen ihres Lebens nicht vor. Tatsächlich wurde Hannah Arendt nicht in Königsberg, sondern in einem Vorort von Hannover geboren. Aber ihre Eltern Paul und Martha Arendt stammten aus Königsberg. Paul Arendt arbeitete in Hannover als Ingenieur. Als die kleine Hannah kaum drei Jahre alt war, brach Paul Arendts Syphilis-Erkrankung aus, die er sich in den Jahren vor seiner Hochzeit zugezogen hatte, die man aber für geheilt hielt. Er konnte nicht mehr arbeiten. Deshalb mussten er und seine Frau mit ihrem Kind nach Königsberg zurückkehren. Sie wohnten dort auf den Hufen, Tiergartenstr. 6 (heute ул. Зоологическая). Paul Arendts Vater, Hannahs geliebter Großvater Max Arendt, wohnte gleich nebenan in der Goltzallee (heute ул. Гостиная). 

Im März 1913 starb Max Arendt, im Oktober 1913 sein kranker Sohn Paul Arendt. Die kleine Hannah wurde in den nächsten Jahren von ihrer Mutter Martha Arendt, geb. Cohn allein erzogen. Im Jahre 1920 heiratete die verwitwete Martha Arendt den Eisenwarenhändler Martin Beerwald, der als Sohn eines Einwanderers aus Russland in Königsberg geboren und aufgewachsen war, und zog mit ihrer Tochter Hannah in dessen Haus in der Busoltstraße  (heute ул. Ермака)[1], zwei Straßen weiter von der Tiergartenstraße. In dem Hufenviertel lebten die wohlhabenden Bürger Königsbergs; dort – zwischen der Tiergartenstraße, der Goltzallee und  der Busoltstraße  – wuchs Hannah Arendt auf.  

Im August 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, sah so aus, als würde die russische Armee bald Königsberg einnehmen. Martha Arendt floh deshalb mit ihrer Tochter zu ihrer jüngeren Schwester nach Berlin. Dort blieben sie zehn Wochen. Hannah ging in Berlin-Charlottenburg auf eine Mädchenschule und wurde von den Verwandten und Freunden der Familie verwöhnt. Ihre Mutter schrieb: „Trotzdem ist eine übergroße Sehnsucht in ihr nach ihrem Zuhause“[2]. Hannah Arendts Biographin Elisabeth Young-Bruehl schrieb: 

Frau Arendt hatte viele Male festgestellt, daß ihre Tochter kurz vor oder während Reisen und Ferien krank wurde, außer bei Ferien, die sie gemeinsam am nahe gelegenen Meer verbrachten, »das sie jeder Reise vorzieht«.[3]

Als Hannah sechs Jahre alt war und ihre Eltern gerade mit ihr in die bayerischen Alpen abreisen wollten, bekam sie eine Halsentzündung, so dass die Reise abgesagt werden musste. Vier Monate nach ihrer Rückkehr von der Flucht aus Königsberg wollte die Mutter mit ihrer Tochter erneut nach Berlin fahren, doch da bekam Hannah hohes Fieber und starken Husten und noch andere Krankheiten, die zehn Wochen lang anhielten. Als Kind verhielt sich Hannah Arendt also wie viele Königsberger: sie wollte Königsberg nicht verlassen, und ihre liebste Reise war die kurze Fahrt an die Ostseeküste. Die Großeltern Arendt besaßen ein Sommerhaus bei Cranz (heute Зеленоградск), die Großmutter Cohn in Neukuhren (heute Пионерский), wo die Familien gemeinsam den Sommer verbrachten. [4] 

Hannah Arendt hat über ihre Kindheit und Jugend in Königsberg nichts geschrieben und sich nur selten dazu geäußert. Wir können deshalb nur mutmaßen, ob und wie sich dieser erste Lebensabschnitt auf ihr späteres Leben und Schaffen ausgewirkt hat.  

In einem Fernsehgespräch mit Günter Gaus vom Oktober 1964 sagte sie: „Mein Großvater war Präsident der liberalen Gemeinde und Stadtverordneter von Königsberg. Ich komme aus einer alten Königsberger Familie.“[5] Was wissen wir von dieser „alten Königsberger Familie“? Elisabeth Young-Bruehl schreibt, die Mutter von Hannahs Großvater Max Arendt, also ihre Urgroßmutter sei „zu Mendelssohns Zeiten mit Familie aus Russland nach Königsberg gekommen“[6]. Das ist kaum möglich, da Moses Mendelssohn 1786 gestorben und Max Arendt 1843 geboren ist.[7] Jedenfalls ist ihr Großvater väterlicherseits der erste Vertreter der Familie  Hannah Arendts, der in Königsberg zur Welt kam. Ihr Großvater mütterlicherseits Jacob Cohn war 1838 im russischen Litauen geboren und floh 1852 mit seinen Eltern vor der judenfeindlichen Politik des Zaren Nikolaus I. nach Königsberg.[8] Auch ihre Großmutter Fanny Cohn, geb. Spiero war in ihrer Jugend aus Russland nach Königsberg gekommen.[9] Sie sprach Deutsch mit starkem russischem Akzent und trug gerne russische Bauernkleider.[10] 

Alle Vorfahren Hannah Arendts waren aus Russland gekommen. Der einzige „alte Königsberger“ in ihrer Familie war ihr geliebter Großvater Max Arendt. Warum sagte sie also nicht, sie stamme aus einer Familie von Einwanderern aus Russland? Die Antwort kann nur sein, dass sie sich eben nicht als Abkömmling russischer Einwanderer, sondern als Königsbergerin empfand.   

Wie Hannah Arendts Mentor und Freund, der spätere zionistische Politiker Kurt Blumenfeld – ein Ostpreuße, der an der Albertus-Universität Königsberg Jura studierte und im Hause von Max Arendt verkehrte – berichtet, war Max Arendt „ein glühender Deutscher und zitierte … das Wort Gabriel Rießers[11]: ‚Wer mir mein Deutschtum bestreitet, den halte ich für einen Mörder.‘“[12] Seine Enkelin Hannah Arendt betrachtete sich dagegen nicht als Deutsche. Karl Jaspers sagte ihr: „Natürlich sind Sie Deutsche!“ Sie antwortete: „Das sieht man doch, ich bin keine!“[13] In einem Brief an die Freie Universität Berlin 1964 schrieb sie jedoch von  „Königsberg, meiner Heimatstadt.“[14] Wenn sie sich auch nicht als Deutsche betrachtete, dann aber doch als Königsbergerin. 

Einer der ganz wenigen noch lebenden Königsberger, die den gelben Judenstern tragen mussten und den Untergang Königsbergs erlebten, Michael Wieck, hat beschrieben, wie Königsberg auf ein Kind wirkte: 

Königsberg war eine Stadt, die kindlicher Phantasie unendlich viel Nahrung gab. Fast schon eine Kindertraumstadt,   mit einem imposanten  Schloss im Zentrum. Davor stand ein gekrönter, säbelhochreckender, überlebensgroßer Kaiser Wilhelm I. Im viereckigen   Schlosshof war  ein  Weinkeller  mit  dem schauereinflößenden   Namen    »Blutgericht«.    Gar nicht weit davon entfernt konnte man auf einem lieblichen Schlossteich,  mit Schwänen und Enten, Boote für eine Spazierfahrt mieten. Überall spannten sich malerische Brücken über den Fluss Pregel; Ziehbrücken, die uns oftmals zu spät in die Schule kommen ließen und die auf eine im Stadtzentrum gelegene Insel führten. Der würdige alte Dom, in dem ich, ganz überwältigt, die erste Matthäuspassion gehört habe, beherrschte den ‚Kneiphof‘, wie man die Insel nannte. An seiner Mauer ruht der Philosoph Immanuel Kant,   dessen Worte auf einer Tafel an  der Schlossmauer eingeschmiedet waren.  … Die vielen alten Speicher, vor denen Lastkähne immer etwas abzuladen hatten, die winkligen engen Gassen und mächtigen Tore an den Befestigungsmauern zeugten von einer alten Geschichte und ließen die Stadt zum Schauplatz von Sagen und Märchen werden[15]

In dieser Stadt wuchs Hannah Arendt auf. Sie ging auf die Königin-LuiseSchule  in der Landhofmeisterstraße (heute Schule Nr. 41 in der ул. С. Тюленина), das einzige Gymnasium Königsbergs für Mädchen, wo sie Latein und Griechisch lernen konnten. Griechisch war Hannah Arendts Lieblingsfach. Anzunehmen ist, dass sie mit der Straßenbahn zur Schule und zurück nach Hause fuhr und auf diese Weise jahrelang jeden Tag ihre Heimatstadt durchquerte. Es besteht wohl kein Zweifel, dass deren Anblick sich ihr eingeprägt hat. 

Königsberg stand ganz im Zeichen seines größten Sohnes. Der Schriftsteller Max Fürst, der nur ein Jahr älter war als Hannah Arendt,   beschrieb in seiner Autobiographie die an der Mauer des Königsberger Schlosses angebrachte „Kant-Tafel mit dem bestirnten Himmel und dem moralischen Gesetz. Jeder Schüler in Königsberg hat es einmal abschreiben müssen.“[16] 

Immanuel Kant war in Königsberg die unbestrittene Instanz für gutes Verhalten und gutes Benehmen. Die Kantischen Tugenden waren auch die preußischen Tugenden, die von Friedrich Wilhelm I. vorgelebt wurden und mit denen Kant in einem pietistischen Elternhaus selbst aufgewachsen war: höflich, anspruchslos, pflichttreu, ehrlich, genügsam und fleißig zu sein, gute Arbeit zu leisten und die Obrigkeit zu achten. Kants Gedanken haben die kulturelle Schicht in Königsberg in einer Weise geformt, die über religiöse Abgrenzungen hinausging; alle Königsberger, ohne Rücksicht auf ihr Bekenntnis, stimmten seinen Lehren zu.[17]  

Obwohl die Juden im Preußen des 18. Jahrhunderts noch keine gleichberechtigten Bürger waren, lebten sie doch unter dem Schutz des preußischen Rechtsstaats. Andrej Bolotow, der während des Siebenjährigen Kriegs als russischer Offizier in Königsberg lebte, erzählt in seiner Autobiographie, dass ein deutscher Bekannter ihn zu einem jüdischen Hochzeitsfest einlud. Voll Erstaunen beschreibt er, dass daran Königsberger Handwerker, Geistliche, Kaufleute mit ihren Frauen und Töchtern, Studenten, Adlige und Offiziere teilnahmen und sich die Juden von ihnen nur durch einen kleinen Haarstreifen von den Schläfen zum Kinn unterschieden, aber ansonsten wie auch ihre Frauen ebenso gut gekleidet waren wie die übrigen Gäste.[18] So etwas kannte er aus Russland nicht. 

Der Arzt Markus Herz war Kants Respondent bei der Verteidigung seiner Inauguraldissertation und nach seiner Übersiedlung nach Berlin ein wichtiger Briefpartner Kants. Isaac Abraham Euchel, der an der „Albertina“  Philosophie und orientalische Sprachen studiert hatte,  begründete 1783 in Königsberg die erste moderne hebräische Zeitschrift Ha Meassef  („Der Sammler“), die zum Zentralorgan der jüdischen Aufklärung wurde. 

Als am 25. August 1896 die Neue Synagoge in der Lindenstraße (heute ул. Октябрьская) am Pregel gegenüber der Alten Universität eingeweiht wurde, waren der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen Graf Bismarck, der Stadtkommandant Generalleutnant Keyler, Oberbürgermeister Hoffmann, mehrere Professoren der Albertus-Universität und der evangelische Superintendent Lackner unter den Festgästen. Für die Stadt sprach Königsbergs Zweiter Bürgermeister Karl Brinkmann. Er sagte der Synagogengemeinde, „dass an Ihrem Feste die gesamte Königsberger Bürgerschaft freudigen Anteil nimmt.

Denn gehobenen Hauptes und Ihrer Zustimmung sicher, darf ich es wohl aussprechen: Hier in Königsberg leben die Bekenner aller Religionen und Konfessionen in Frieden und Eintracht neben- und miteinander.“[19] In seiner Festpredigt zum 200. Geburtstags Immanuel Kants, gehalten am zweiten Tage des Pessachfestes 5684 (20. April 1924) in der Neuen Synagoge in Königsberg,  vertrat Gemeinderabbiner Dr. Reinhold Lewin die Ansicht: „ … das Weltbürgertum der Sittlichkeit ist Moses und Kants gemeinsame Predigt: das Sittengebot, das Adel und Würde dem einzelnen gibt, ist seine Bindung an das Ganze. … Mose …reicht dem Denker des deutschen Volkes über die Jahrtausende die Hand.“[20]  

Vor diesem Hintergrund kann man Hannah Arendts Selbstbewusstsein verstehen, das sie wie folgt ausdrückte:  

Tatsache ist, dass ich nicht nur niemals so getan habe, als sei ich etwas anderes, als ich bin, ich habe niemals auch nur die Versuchung dazu verspürt.
… Nicht einmal in der Kindheit. Jude sein gehört für mich zu den unbezweifelbaren Gegebenheiten meines Lebens, und ich habe an solchen

Faktizitäten niemals etwas ändern wollen.[21]

Basis dieses Selbstbewusstseins „war eine selbstverständliche Identität als Jüdin, wie sie vielleicht gerade in der liberalen und vergleichsweise pluralistischen Atmosphäre im Königsberg der Vorkriegsjahre hatte gedeihen können.“ [22] Max Fürst besaß ein ähnliches Selbstbewusstsein wie sie:

Ich lasse mir nicht von anderen vorschreiben, wer ich bin. Vielleicht bin ich kein Deutscher — was ist das überhaupt —, ich bin Königsberger und Ostpreuße und ich gehöre hierher wie alle anderen, die hier geboren sind und hier leben.[23]

Nur dreieinhalb Jahre, bevor die Nationalsozialisten in Deutschland zur Macht kamen, und auf den Tag genau 15 Jahre, bevor das alte Königsberg im Feuersturm der britischen Luftwaffe unterging, schilderte Thomas Mann in einem Gespräch mit der „Königsberger Allgemeinen Zeitung“ am 29. August 1929, was er bei seinem ersten Besuch in Ostpreußen empfand: 

Ich weiß nicht, warum mir die Gestalt des Ostens so lieb geworden ist in dieser kurzen Zeit. Ist es Ergänzung meines Wesens? Der Ostpreuße ist so anders, so einmalig in seiner Art. Vielleicht, dass unbewusst in diesen Herzen und Hirnen ein fremder großer Mythos lebt… hier finde ich die Brücke zum slawischen Kulturkreis. [24]

Das Selbstbewusstsein von Hannah Arendt und Max Fürst entsprach der Forderung Thomas Manns, die er in seinem Gespräch mit der Königsberger Allgemeinen Zeitung aufstellte: 

Alle guten wahrhaften Geister sollen sich aussprechen, in allen Ländern, in allen Zonen. Aber: Der Charakter macht es. Der Deutsche soll Deutscher sein, der Ostpreuße Ostpreuße, der Westfale, der Hannoveraner Niedersachse.
Aus dem Zusammenklang der Individualitäten kommt erst die wahrhafte Einheit. So ist es auch in der Völkerfamilie. Der europäische Geist, den wir kultivieren wollen, kann nur zustande kommen, wenn jeder ‚sich selbst‘ ist.

Verleugnung macht feige.[25]

Hannah Arendt verleugnete sich nicht. Auch Auseinandersetzungen ging sie nicht aus dem Wege. Im Alter von 15 Jahren überwarf  sie sich mit einem Lehrer der Königin-Luise-Schule und wurde der Schule verwiesen. Sie studierte zwei Semester als Jungstudentin an der Berliner Universität; dann wurde ihr gestattet, als Externe an der Königin-Luise-Schule die Abiturprüfung zu abzulegen.  Im Kant-Jubiläumsjahr 1924, in dem das von dem Königsberger Architekten Friedrich Lahrs errichtete Kant-Grabmal am Dom eingeweiht wurde, machte Hannah Arendt Abitur und zeigte sich mit den goldenen Albertus-Plaketten, die in Königsberg jeder Abiturient erhielt, stolz ihren früheren Mitschülerinnen, denen sie ein Jahr voraus war. 

Schon als junges Mädchen hat sich Hannah Arendt mit den Schriften ihres Landsmannes Immanuel Kant beschäftigt. Hätte sie das auch getan, wenn sie in Hannover aufgewachsen wäre? Jürgen Manthey meint:

Dass sie in Kant dann den Philosophen ausmacht, der sich von allen seinen Vorläufern – mit Ausnahme von Sokrates und Rousseau – unterscheidet, indem er Philosophie als kontemplative Tätigkeit nicht zur Absonderung von den anderen, den Nichtphilosophen, einsetzte, und dass sie selbst eine Kantianerin in diesem Sinne werden wird, auch dafür, möchte man meinen, werden die Weichen in ihrer Jugend in Königsberg gestellt.[26] 

Im Jahre 1924, mit knapp 18 Jahren, verließ Hannah Arendt Königsberg und begann ihr Studium in Marburg, das sie in Freiburg und Heidelberg weiterführte. Aber sie blieb in Verbindung mit ihrer Heimatstadt, wo ihre Mutter mit ihrem zweiten Ehemann Martin Beerwald und dessen beiden Töchtern Clara und Eva lebte. Trotz ihrer Wiederverheiratung feierte Martha Arendt zusammen mit ihrer Tochter  im Jahre 1927 ihre Silberhochzeit mit Paul Arendt in einem Lokal neben dem Königsberger Standesamt, wo sie geheiratet hatten.[27]  1929 zog Hannah Arendt nach Berlin und befasste sich dort mit der Biographie Rahel Varnhagens; „erste Ergebnisse dieser Arbeit stellte sie ein Jahr später bei einer Veranstaltung des Jüdischen Frauenbunds in ihrer Heimatstadt Königsberg vor.“[28] Im April 1932 beging Clara Beerwald, die an Depressionen litt, Selbstmord; Hannah Arendt fuhr sofort nach Königsberg.[29] Im August 1933 emigrierte sie nach Paris, konnte danach also nicht mehr nach Königsberg kommen. Ihre Mutter blieb jedoch in Königsberg und verließ die Stadt erst nach den Ausschreitungen der sogenannten „Reichskristallnacht“  am 9. November 1938. 

Während ihrer Schulzeit war Hannah Arendt der Mittelpunkt einer Gruppe von Söhnen und Töchtern aus jüdischen Akademikerfamilien, die sie zu regelmäßigen Treffen in das Haus ihres Stiefvaters Beerwald in der Busoltstraße einlud, mit ihnen Griechisch lernte und über Philosophie sprach.[30]Auch nach ihrem Weggang aus Königsberg blieb Hannah Arendt mit diesem Freundeskreis in Verbindung.[31] Ihre Königsberger Freundin Anne Mendelsohn, die spätere Frau des französischen Philosophen Eric Weil, blieb das ganze Leben lang ihre Vertraute. In einem Brief vom 29.3.1953 an Ihren Freund Kurt Blumenfeld schrieb sie über Anne: „Annchen Mendelsohn, jetzt Anne Weil. Immer noch die ‚beste Freundin‘ wie in Kinderzeiten.“[32]  Ein halbes Jahr vor ihrem Tod besuchte sie 1974 in Stuttgart Max Fürst, den sie schon als Kind kannte, und dessen Frau.[33] 

Hans Jonas und Elisabeth Young-Bruehl beschrieben Hannah Arendts Verhalten gegenüber ihren Freunden mit folgenden Worten:

Hannah Arendt hatte, wie Hans Jonas bei ihrer Bestattung sagte, ein »Genie für die Freundschaft«. In ihren eigenen Worten war ihre Triebkraft der Eros der Freundschaft; und sie hielt ihre Freundschaften für das Zentrum ihres Lebens. Arendt widmete ihre Bücher ihren Freunden; zeichnete ihre Porträts in Worten, schrieb Beiträge zu ihren Festschriften, schickte ihnen zum Geburtstag Gedichte und Briefe, zitierte sie, erzählte immer wieder ihre Geschichten. Die Sprache der Freundschaft beherrschte sie perfekt.[34] 

Es ist erstaunlich, dass Kants Schüler und Biograph Reinhold Bernhard Jachmann in seiner  gleich nach Kants Tod 1804 veröffentlichten Biographie für Kants Verhalten gegenüber seinen Freunden ganz ähnliche Worte fand: 

Kant zeichnete sich besonders durch ein warmes Gefühl für Freundschaft aus.[35]Kant war ein warmer, herzlicher, teilnehmender Freund und behielt dies warme, herzliche Freundschaftsgefühl bis in sein spätes Alter. Seine gefühlvolle Seele beschäftigte sich unablässig mit allem, was seine Freunde betraf; er nahm die kleinsten Umstände ihres Lebens zu Herzen; er war innigst besorgt bei ihren misslichen Vorfällen und herzlich erfreut, wenn drohende Gefahren einen glücklichen Ausgang nahmen.[36]

Zwischen den beiden Königsbergern Immanuel Kant und Hannah Arendt besteht eine Wesensverwandtschaft. Immanuel Kant verbrachte sein Leben im Kreise seiner Freunde in Königsberg; Hannah Arendt musste ihre Heimatstadt und Deutschland verlassen, aber ihre Königsberger Freunde gab sie nicht auf. Sie verbrachte „Jahre, in denen Muttersprache und Freundschaft oft die einzigen Fixpunkte in einem Strom von Krieg, Exil, neuen Sprachen und unvertrauten Bräuchen waren.“[37] 

Als Günter Gaus sie 1964 fragte, was für sie aus dem Europa der Vorhitlerzeit geblieben sei, antwortete sie: „Geblieben ist die Sprache … Es gibt keinen Ersatz für die Muttersprache.“[38] Gefragt nach ihren Eindrücken, als sie 1949 zum ersten Mal wieder nach Deutschland kam, sagte sie: „…dass auf der Straße Deutsch gesprochen wurde, hat mich unbeschreiblich gefreut.“[39] Ihre Muttersprache war aber nicht einfach Hochdeutsch, sondern das in Königsberg gesprochene Deutsch, mit typisch ostpreußischen Ausdrücken und der Königsberger Klangfarbe. Am 29.3.1953 teilte sie ihrem Freund Kurt Blumenfeld mit,

dass Samburski[40] hier war und wohl noch einmal kommt. Wir hatten einen sehr netten Abend zusammen, und ich war ganz entzückt, wieder einmal so unverfälscht Königsbergisch reden zu hören.[41]

In Ihrem Brief vom 23. Oktober 1960 bat sie Blumenfeld, ihr den Termin des Eichmann-Prozesses mitzuteilen, und erklärte:

Ich habe alle möglichen Verpflichtungen und muss rechtzeitig absagen, will aber natürlich nicht einfach absagen und dann mit gewaschenem Hals dastehen und der Onkel kommt nicht. (So redet man in Ostpreußen.)[42]

Sie schrieb im Präsens: „So redet man in Ostpreußen“, obwohl Ostpreußen im Jahre 1960 schon Vergangenheit war. Nach dem Tode ihres Mannes Heinrich Blücher im Jahre 1970 kam ihre Königsberger „beste Freundin“ Anne Weil, geb. Mendelsohn aus Frankreich zu einem langen Aufenthalt zu ihr nach New York, um ihr beizustehen. „Mit Hilfe von Arendts Teilzeit-Hausmädchen, Sally Davis, kümmerte sich Anne Weil um die Einkäufe und das Kochen und, was am wichtigsten war, sie sprach deutsch mit ostpreußischen Wendungen, die sie und ihre Freundin seit ihrer Jugend kannten.“[43] 

In dem Fernsehgespräch mit Günter Gaus am 28. Oktober 1964 sprach auch Hannah Arendt manchmal auf ostpreußische Art, wohl weil sie ungezwungen über sich selbst sprach, also nicht einen wissenschaftlichen Vortrag hielt. Eine ostpreußische Spracheigentümlichkeit ist es  z. B., dass die unbetonte Nachsilbe „-in“ zur Bezeichnung der weiblichen Form abgeschwächt wird zu „-en“. Ein Ostpreuße sagt also nicht „die Ärztin“, sondern „die Ärzten“. So spricht Hannah Arendt das Wort „Philosophin“ wie „Philosophen“ aus und „Jüdin“ wie „Jüden“.[44] Ähnlich wie die Berliner sprechen auch die Ostpreußen das „g“ vor „e“ oft als „j“ aus, und so auch Hannah Arendt: 

„Wenigstens habe ich was jemacht.“[45] 
„… der war ja abjemeldet.“[46]
„… dies hatten sie ja auch nich jewollt.“[47]

Mehrfach sagte sie „dasjenije“, „diejenijen“, „die einzijen“ und antwortet auf eine Frage von Günter Gaus mit einem ostpreußischen Ausdruck: „Das kann ich Ihnen heute nicht mehr auseinanderklabüstern.“[48] 

R. B. Jachmann berichtete über Kant:

Er sah die Konversationssprache bloß als ein Mittel an, unsere Gedanken leicht gegeneinander auszutauschen; sie müßte also … zum allgemeinen leichten Verkehr kein anderes als das Gepräge des Landes haben. Daher war er in seiner Sprache selbst so sorglos, daß er Provinzialismen im Munde führte und bei mehreren Wörtern der fehlerhaften Aussprache der Provinz folgte.[49]

Sowohl Hannah Arendt als auch Immanuel Kant sprachen eine Sprache, die das  Gepräge des Landes hatte, aus dem sie beide stammten, das Gepräge Ostpreußens. Sie hatten dieselbe Muttersprache. 

Nicht nur die Sprache, auch der Geist ihrer Heimatstadt, der Spiritus loci, in dem sie aufgewachsen waren, wirkte sich auf beide aus.  In dem Kapitel „Allgemeiner Charakter Königsbergs“ seiner „Königsberger Skizzen“ erklärte im Jahre 1842 Karl Rosenkranz, Kants Nachfolger als Professor der Philosophie an der „Albertina“, das Wesen Königsbergs wie folgt: 

Mir scheint nun der Hauptzug Königsbergs in einer durch den nüchternsten  Verstand beherrschten Universalität zu liegen. … Es beweist dadurch seine  Anlage zum Fortschritt.  … Aber in seiner Universalität ist es zugleich von unerbittlicher Verständigkeit. …  Diese Verständigkeit ist in Verbindung mit jener Universalität der Grund einer seltenen Gerechtigkeit des Urtheils. …  Wenn deshalb von Königsberg die kritische Philosophie ausgegangen ist, so hat man in der That darin mehr als einen Zufall zu sehen.“[50]

Kants kritische Philosophie ist aus dem Geist Königsbergs entstanden.  Dass Hannah Arendt als vierzehnjährige Schülerin in Königsberg anfing, sich mit den Werken Kants zu beschäftigen, und dass sie in den letzten Jahren vor ihrem Tod am 4. Dezember 1975 in New York an einem Werk arbeitete, in dessen Mittelpunkt Kants politische Philosophie steht, hat etwas mit Königsberg zu tun. Die Ostpreußen Johann Georg Hamann, Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder waren ihre geistigen Lehrer. Jürgen Manthey hat zitiert, was Hannah Arendt im Jahre 1964 zu Joachim Fest sagte: „In meiner Art zu denken und zu urteilen komme ich immer noch aus Königsberg. Manchmal verheimliche ich mir das. Aber es ist so.“[51] 

Der Königsberger Immanuel Kant verbrachte sein ganzes Leben in seiner Heimatstadt und war gleichzeitig Weltbürger. Die Weltbürgerin Hannah Arendt verbrachte den größten Teil ihres Lebens weit entfernt von ihrer Heimatstadt. Aber wenn man ihr Leben und Werk betrachtet, muss man zu dem Ergebnis kommen: Sie ist ihr ganzes Leben lang Königsbergerin geblieben.

4. Dezember 2014

Gerfried Horst


[1] Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt – Leben, Werk und Zeit, Frankfurt am Main 2004, S. 67

[2] Ibid., S. 58

[3] Ibidem, S. 61

[4] Stefanie Schüler-Springorum, Hannah Arendt und Königsberg // Michael Brocke/Margret Heitmann/Harald

Lordick (Hrsg.): Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreußen, Hildesheim/Zürich/New York 2000, S. 511-529,  517

[5] Hannah Arendt, Denken ohne Geländer, Texte und Briefe, hrsg. von Heidi Bohnet und Klaus Stadler, München 2006, S. 219

[6] Elisabeth Young-Bruehl, op. cit., S. 40

[7] Ibid., S. 648

[8] Alois Prinz, Hannah Arendt oder die Liebe zur Welt. Berlin 2012, S. 19;  Wolfgang Heuer, Hannah Arendt, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 9

[9] Stefanie Schüler-Springorum, op. cit., S. 513

[10] Elisabeth Young-Bruehl, op. cit., S. 43

[11] Gabriel Rießer (1806 – 1863) war als Hamburger Obergerichtsrat der erste jüdische Richter Deutschlands

[12] Stefanie Schüler-Springorum, op. cit., S. 514

[13] Interview mit Günter Gaus // Hannah Arendt, Denken ohne Geländer, op. cit., S. 221 

[14] Jürgen Manthey, Königsberg – Geschichte einer Weltbürgerrepublik, München Wien 2005, S. 612

[15] Michael Wieck, Zeugnis vom Untergang Königsbergs – Ein „Geltungsjude“ berichtet, München 2005, S. 51

[16] Max Fürst, Gefilte Fisch – Eine Jugend in Königsberg, München 1973, S. 39

[17] So Michael Wieck in einem Gespräch mit dem Verfasser am 5.11.2014 

[18] Leben und Abenteuer des Andrej Bolotow, von ihm selbst für seine Nachkommen aufgeschrieben, 1738 – 1795, Erster Band, München 1990, S. 321-322

[19] Karl Brinkmann, Rede zur Eröffnung der Königsberger Neuen Synagoge 1896 // Festschrift zum 25jährigen Jubiläum der Königsberger Synagoge, 1921 

[20] Dr. Reinhold Lewin, Mose und Kant // Rudolf Malter (Hg.), „Denken wir uns aber als verpflichtet …“ –

Königsberger Kant-Ansprachen 1804 – 1945, Erlangen 1992, S. 156 – 159

[21] Stefanie Schüler-Springorum, op. cit., S. 524

[22] Ebenda, S. 523

[23] Max Fürst, op. cit., S. 195

[24] Königsberger Allgemeine Zeitung, 29. August 1929, Gespräch mit Thomas Mann // Frage und Antwort,

Interviews mit Thomas Mann 1909 – 1955, hrsg. v. Volkmar Hansen und Gert Heine, Hamburg 1983, S. 146 

[25] Ebenda, S. 147

[26] Jürgen Manthey, op. cit., S. 615

[27] Elisabeth Young-Bruehl, op. cit., S. 64

[28] Stefanie Schüler-Springorum, op. cit., S. 525

[29] Elisabeth Young-Bruehl, op. cit., S. 159

[30] Ebenda, S. 71-72

[31] Ebenda, S. 105-106

[32] Hannah Arendt – Kurt Blumenfeld „… in keinem Besitz verwurzelt“, Die Korrespondenz, hrsg. von Ingeborg Nordmann und Iris Pilling, Hamburg 1995, S. 83

[33] Stefanie Schüler-Springorum, op. cit., S. 529

[34] Elisabeth Young-Bruehl, op. cit., S. 15

[35] Reinhold Bernhard Jachmann, Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, Königsberg 1804, Achter Brief, S. 75

[36] Ebenda, S. 83

[37] Ebenda

[38] Hannah Arendt, Von Wahrheit und Politik, Originalaufnahmen aus den 50er und 60er Jahren, München 1999/2006, 5 CD-Box, CD 1, Track 8, 4:20

[39] Ebenda, Track 9, 5:43

[40] Schmuel (Samuel) Sambursky, geb. am 30. Oktober 1900 in Königsberg, gest. am 18. Mai 1990 in Jerusalem , Physiker und Historiker

[41] Hannah Arendt – Kurt Blumenfeld, op. cit., S. 83 

[42] Ebenda, S. 257

[43] Elisabeth Young-Bruehl, op. cit., S. 593

[44] Hannah Arendt, Originalaufnahmen aus den 50er und 60er Jahren, op. cit., Track 3

[45] Ebenda, Track 3, 4:00

[46] Ebenda, Track 9, 4:12

[47] Ebenda, Track 9, 4:30

[48] Ebenda, Track 4, 2:40

[49] Reinhold Bernhard Jachmann, op. cit., Sechster Brief, S. 60

[50] Karl Rosenkranz, Königsberger Skizzen, Danzig 1842, Nachdruck Hannover-Döhren 1972, S. 64 – 69 passim

[51] Jürgen Manthey, op. cit., S. 629

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