Geschichte

Mein Vorfahre Eduard von Simson (1810 – 1899) – Professor in Königsberg und Vater des deutschen Parlamentarismus

Meine Damen und Herren,

Dies ist das erste Mal, dass ich mich hier in Königsberg befinde, und doch bin ich hier irgendwie zuhause. Beide Seiten meiner Familie kommen aus dem Baltikum und waren Studenten und Professoren hier in Königsberg, in Dorpat und anderswo. Ich danke der Kant-Universität herzlich dafür, dass sie mich zu der heutigen Feier eingeladen hat.

Man hat mich gebeten, ein paar Worte über das Familienleben Eduard von Simsons zu sagen. In diesem Zusammenhang schulde ich Ihnen vielleicht eine Bemerkung: Ich habe meinen Ur-Ur-Großvater nie getroffen. Da er 1899 starb, hoffte ich, das nicht ausdrücklich betonen zu müssen. Aber vor einigen Tagen, als ich zu einer Studentin sagte, dass ich vor dem Weltkrieg geboren worden bin, hat sie mich mit ernster Miene gefragt,  ob ich den ersten oder den zweiten  Weltkrieg meinte.

Trotz dieses Mangels an persönlichem Kontakt darf ich vielleicht einige Blicke in Simsons frühes und spätes Privatleben mit Ihnen teilen, die in der Familienerinnerung hängen geblieben sind.

Leider muss ich anfangen mit einem Zeugnis, das der elfjährige Martin Eduard hier in dem Collegium Fridericianum – wo auch Kant Schüler war – erhielt: “Ein gewisses hochfahrendes Wesen muss Simson noch mehr ablegen. – Simson hält sich für unterrichteter, als er ist, und daher kommt es, dass er nicht immer in den Vortrag eingeht, und durch Plaudern zuweilen stört”. Diese Tradition haben wir Simsonsche Familienkinder bis heute sorgfältig gepflegt.

Aber danach ging es besser. Abitur als fünfzehnjähriger; als achtzehnjähriger promovierte er. Als 19jähriger hat er Goethe auf einer Geburtstagsfeier besucht und wurde ihm vorgestellt. In einem Brief nach Hause findet man „Von der Überschwemmung ausgehend, erkundigte sich der Alte nach Königsberg, namentlich den botanischen Garten, Ostpreußen überhaupt.“ Und endet seine Beschreibung „Des Himmels Segen über den Heros! Er lebt – ob er stürbe“. Simsons Sohn Bernhard schrieb 70 Jahre später von seinemVater „Goethes Werke blieben der unerschöpfliche Born, aus dem er Erhebung, Genuss, eine verklärte Ansicht des Lebens, die Freudigkeit zum Tagwerke, die Goethe vor Allem predigt, schöpfte. Sein abgegriffenes Exemplar der Ausgabe letzter Hand in 60 Bänden hat er, ich weiss nicht wie oft, von Anfang bis zu Ende gelesen.Die Ränder der Seiten sind mit zahlreichen Verweisungen und Notizen von seiner Hand bedeckt.“ Als die Goethegesellschaft 1885 endlich gegründet wurde, wurde Martin Eduard zum ersten Vorsitzenden gewählt.

Aber ich springe voraus. Lassen sie mich zurückgehen. Mit 22 Jahren war er schon außerordentlicher Professor. Drei Jahre später war er ordentlicher Professor hier an der Albertina. Dann wurde er als Hilfsrichter und außerordentliches Mitglied des Tribunals angestellt, bis er in 1846 endlich zum Tribunalsrat ernannt wurde.

Um uns einen Blick auf Simson in seinen dreißiger Jahren zu verschaffen, erlaube ich mir, aus ein paar Briefen zu zitieren, die er als 37jähriger Richter 1847 auf einer Englandreise an seine Frau Clara geschrieben hat: 

 „Spaßes halber… nehme ich eine Pause von ¼ Stunde, die man eben in den Verhandlungen des central criminal court macht, wahr, um Dir von der Bench aus, auf der ich in diesem Augenblick vor ein paar hundert Anwesenden allein sitze, ein paar Worte zu schreiben. Meine Empfehlungen haben so trefflich gewirkt, als irgendwo. Die Sheriffs haben mich gestern mit sich in des Lord Mayors parlour zu breakfast, luncheon und dinner eingeladen (an dem zweiten hab’ ich auch teilgenommen) und ich erfreue mich – zur Rechten des presiding judge (gestern und heut des Recorders der City) sitzend, zwischen ihm und der jury, jeder irgend denkbaren Erleichterung der Auffassung, höre treffliche Advokaten und schwelge in diesen Anschauungen von denen ich mir nie gedacht habe, dass ich so tief hineinkommen könnte. Du musst denken: Dein E. sitzt hier, obschon ein Prussian judge – so werde ich vorgestellt – gleich einem der zwölf großen Richter von Westminster, an einem besonderen allerliebsten Mahagonipult, mit allem erdenklichen Schreibmaterial versehen, comfortable im vollsten Sinne des Worts, zumal in dem Gedanken, Euch in kurzem von allen diesen Dingen mündlich zu unterhalten, so lang Ihr zuhören wollt.

Nun ist die Verhandlung wieder völlig im Gange: vier counsels examinieren um die Wette einen armen Jungen in die Kreuz und Quere: die Stenographen unter mir schreiben in Angstschweiß…“   

[…]

„Nun aber komme ich zu dem bis dato merkwürdigsten Tage meines hiesigen Lebens, dem gestrigen Freitag. Nach Besorgung einiger kleiner Einkäufe … ging ich wieder auf meinen Richterplatz nach Old-bailey. Da für diesen Tag die beiden Morde, die überhaupt auf der Liste standen, vor waren, erschien als Vorsitzender der Präsident von Exchequer, der Lord Chief Baron, Sir Frederick Pollock. Auf sein Verlangen legte ihm der Sheriff den Brief, mit dem ich eingeführt war, und meine Karte vor. Dies hatte die folge, dass wir uns vielfach den Tag über unterhielten und er – nachdem ich die Einladung des Sheriffs zu Mittag angenommen, sein Bedauern aussprach, nicht da bleiben zu können, da seine Lady „unwell” sei. Gegen 6 Uhr erschien der Lord Mayor auf der Bench; um 6 ½ Uhr schloss die Sitzung; man ging unter dem Vortritt der Undersheriffs mit ihren weißen Stäben zu Tisch. Prächtiger Saal, der Lord Mayor in the chair, 25 Personen, die meisten in ihrer Amtstracht mit Perücke etc. Einleitendes Tischgebet durch den Kaplan von Newgate; ich dem dagebliebenen Richter von Westminster, Baron Creswell, vorgestellt; ein höchst angenehmer Mann, kaum älter als ich. Bei Tisch Lord Mayor, Creswell usw. usw. wish to take a little wine with me; dankbar acceptiert, von dem schweren Sherry kam mir so wohl eine halbe Flasche in den Magen, was – wie Ihr gleich sehen sollt – sehr gut war. Bei dem Wegnehmen des Tischtuches wieder ein Gebet; dann durch den Lord Mayor erst die üblichen Toaste, Church and queen, army and navy usw. Dann proponiert er die Gesundheit von Mylord von Westminsterhall, der dankt und den Lord Mayor leben lässt. Nun aufgepasst! Nach noch einem Toast proponiert der Lord Mayor die Gesundheit des Dr. Simson, the learned Prussian justice, by whose presence we are favoured. Nun erhebt sich Dr. Simson und dankt, von dem Sherry getragen, englisch für die ihm durch den Vorschlag des Lord Mayor und dessen Aufnahme durch die Gesellschaft erwiesene Ehre. Er sagt, Deutschland verdanke England das Erwachen seiner Literatur: an dem Genius Shakespeares hätten sich die verwandten Geister Lessings, Goethes, Schillers entzündet; Preußen verdanke dem Studium der vollendeten Englischen Verfassung die Anfäge seiner eigenen; er (Dr. Simson) wünsche, kein falscher Prophet zu sein, wenn er sage, Deutschland werde Albion auch für die Erfrischung seines Strafprozesses – dessen Wirkung mit eigenen Augen zu sehen, er unter Verlassung von Frau und Kind herübergekommen sei – dankbar werden. Er schlage deshalb, als preußischer Patriot, vor: the immortal institutions of this imperial kingdom ! – Nach jedem Satz lauter Beifall, am Schlusse loud cheers mit Händen und Füßen und mehr Komplimente über seine Rede, als er – Dr. S. – je in Deutschland geerntet. Ich muss Euch aufrichtig sagen: es ging comme il faut und ich kam in einer wunderbar getragenen Stimmung – beiläufig nach dem vortrefflichsten Diner – gegen 10 Uhr nach Hause …

[Als ich in England Richter war habe ich diese Szene nachgespielt und meinen Onkel Werner von Simson gebeten, sich im Gerichtssaal an meine Seite zu setzen.]

Sein politisches Leben fing 1846 als Mitglied der Stadtverordnetenversammlung in Königsberg an. Danach, wie bekannt ist, war er abwechselnd Politiker und Richter, und in beiden Kapazitäten hat er gewöhnlich als Präsident funktioniert. Die ausgezeichnete Ausstellung, die wir vor uns sehen, gibt uns viele Details, und ich will Sie nicht mit  bekannten Dingen langweilen.

Ein Zitat aus dem preußischen Abgeordnetenhaus im Jahre  1866 erlaube ich mir, um uns das Gefühl einer Simson-Rede zu geben. Simson beklagte die Politik Bismarks mit den Worten:
„Die Herren können nicht regieren (so sehr sie es auch wollen möchten) mit einer freien Presse; Sie können nicht regieren ohne Einfluss auf die Zusammensetzung der Gerichte und sollte dadurch das Ansehen der Justiz in diesem Lande untergraben werden; Sie können nicht regieren ohne Einfluss  auf die Wahlen zum Landtag und sollte dadurch ein scheinbares Resultat gewonnen werden, wodurch das Gegenteil von dem ausgesprochen wird, was wirklich in dem Herzen der Nation lebt; Sie können nicht regieren mit einer freien Kommunalverwaltung; Sie können auch schließlich nicht regieren mit einem Hause, in dem die durch Art. 84 vorgesehene Redefreiheit waltet!

Dass man, um die Sachen ein Weilchen noch in diesem Gange zu erhalten, – nicht ein Weilchen für die kurze Dauer unseres Menschenlebens, wohl aber für die Entwicklungsdauer der Nation – dass man für diese Quäntchen Gegenwart unersetzliche Zentner von Zukunft vergeudet, das will in meinen armen Sinn nicht hinein. Und Sie stehen im Kampfe mit den geistigen und sittlichen Mächten der Gegenwart. Sie werden diesen Mächten früher oder später weichen müssen, deren Gewicht und Bedeutung Sie unterschätzen, – und wenn meine Ahnung nicht trügt, so ist der Obertribunals-Beschluss von 29. Januar, den Sie herbeigeführt haben, die erste Etappe ihres Rückzuges.“

Als ihm der Posten des Präsidenten des Reichsgerichts angeboten wurde, lebte seine Frau noch, obwohl sie ziemlich krank war.  Er nahm an, daß der Gedanke, Preußen zu verlassen, für sie höchst unerquicklich sein würde und dass er ihr jegliche Rücksicht schuldete. Er hat Fürst Bismarck klargemacht, dass er den Posten nicht annehmen wolle, hat ihm aber versprochen, die Sache wenigstens mit seiner Familie zu besprechen. Zu seinem Erstaunen fand er im Kreise der Familie und namentlich bei seiner Frau die unbedingteste Zustimmung zu der ihm angebotenen Versetzung. Am nächsten Morgen schrieb er dem Fürsten, dass er in der Unterredung mit den Seinigen keinen Anhalt für Bedenken gefunden hätte und sich zur Verfügung stelle. Er war 68. [Komischerweise habe ich diese Szene auch wieder nachgespielt, als ich, als siebenundsechzigjähriger, gefragt wurde ob ich zum Europäischen Gerichtshof versetzt werden möchte.]

Mit der Frau, an die die vorher zitierten Briefe geschrieben wurden, war er 49 Jahre glücklich verheiratet, ehe sie starb. Neun Kinder, zwei Söhne und sieben Töchter, hat sie ihm geschenkt, und im hohen Alter sah er sich mit Freude von einer Schar von Enkeln und Urenkeln umgeben.

Ich teile mit Ihnen eine Geschichte, die mir Werner von Simson mündlich weitergegeben hat. Martin Eduard war, wie gesagt, 68 Jahre alt, als er ernannt wurde. Er hat einen seiner Söhne zur Seite genommen und zu ihm gesagt: “Ich weiß, dass alte Männer öfters ein solches Amt nicht freiwillig verlassen und zu lange bleiben. Du musst mir versprechen, mir ehrlich zu sagen, wann die Zeit kommt, dass ich gehen soll. Kein anderer wird es wagen”.

Am 24. August 1890, als sein Vater schon 79 war, kam sein Sohn zum Frühstück und erinnerte ihn an dieses Gespräch. “Du denkst, dass die Zeit gekommen ist?” Ja, Vater”.  “Vielen Dank. Ich werde auch gehen. Es sind aber noch einige Sachen, die ich zuerst erledigen muss.” “Ja, Vater, das sehe ich ein. Aber Du verlässt diesen Tisch nicht, bis Du dem Kaiser geschrieben hast.” Pause. “Könntest Du mir etwas Briefpapier holen.” Der Brief wurde geschrieben, und am 20sten Dezember desselben Jahres war das Ansuchen seiner Versetzung in den Ruhestand vom Kaiser bewilligt.

Ich schließe mit ein paar Zitaten von der Feier des 175. Geburtstages von Eduard von Simson 1985, die mir im Kopf geblieben sind. Das erste kommt von dem damaligen Präsidenten des Bundestages Dr.en Jenninger und  das zweite von dem damaligen Bundespräsident Dr. von Weizsäcker.

„Eduard von Simson wusste, dass eine Politik, die zum Segen der Menschen wirken soll, eine rechtliche Dimension braucht. Darin blickte er weit über seine Zeit hinaus. Dass seine Denkweise heute immer stärker auch internationales Gedankengut wird, ist eine Hoffnung, die unser Handeln in einer von ganz neuen Gefahren bedrohten Welt stützt. Wir ehren deshalb heute mit Eduard von Simson einen Mann, der sich durch seine noble Haltung in den Auseinandersetzungen seiner Epoche für immer in das Buch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus eingetragen hat.“

„Als immer wieder gewählter Präsident der Volksvertretungen verkörperte er in entscheidenden Jahren das Prinzip demokratischer Legitimation, als Präsident des Reichsgerichtes das Prinzip des Rechtsstaates.“ Weizsäcker

© 2013 Sir Konrad Schiemann

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