Geschichte

Reisebericht 2016

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IMMANUEL KANT- BRÜCKE ZWISCHEN VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT 

Bericht über die Reise der “Freunde Kants und Königsbergs e.V.” im April 2016 

“Wir befinden uns hier in Preußen, und es ist unsere Aufgabe, die preußische Geschichte wachzuhalten”, sagte Gerfried Horst, der Vorsitzende der “Freunde Kants und Königsbergs e.V.” “Der Anschluss an die preußisch-russische Geschichte und an die Zukunft muss hergestellt werden”, fuhr er fort, “und in dieser Region hat die Geschichte Deutsche und Russen zusammengeführt.” Die “Freunde Kants und Königsbergs” saßen in Insterburg/Tschernjachowsk im Hotel Kotchar und waren auf dem Weg nach Königsberg/Kaliningrad, um dort wie jedes Jahr am 22. April 2016 Kants Geburtstag zu feiern. Gerfried Horst rief diese Tradition, den Geburtstag des Philosophen in seiner Geburtsstadt zu feiern, seinerzeit ins Leben, und 2017 wird das zehnjährige Jubiläum begangen. Ja, man war in Preußen, wie die bisherigen Stationen der Reise gezeigt hatten. Insterburg hat noch immer die Ausstrahlung einer preußischen Provinzstadt, und ihr neuer Namensgeber General Tschernjachowsk schaut, ein imposantes Standbild, von seinem Sockel über die Pissa. Die Gruppe wurde in die Stadtverwaltung eingeladen, wo Stühle für die unerwartet vielen Leute herbeigeschafft werden mussten. Gerfried Horst bringt mit jedem Jahr mehr Geburtstagsgäste zum “Bohnenmahl” nach Königsberg, und sie kommen aus verschiedenen Ländern. In diesem Jahr war eine GermanistikProfessorin aus Japan dabei.

Bei der Zusammenkunft in der Stadtverwaltung stand die Frage im Mittelpunkt, inwieweit von russischer Seite Interesse bestehe, die deutschen Spuren besonders in den Grün- und Parkanlagen der Stadt wieder sichtbar zu machen. Das Thema wurde später in der Burg vertieft, als der gebürtige Insterburger Prof. Jürgen Wenzel Vorschläge zur Stadterneuerung vorstellte und der russische Historiker Wladimir Wlassow über seine Magisterarbeit zur Stadtgeschichte referierte. Die Burg ist allerdings eine Ruine, die Scheune und das frühere Gesindehaus stehen noch. Dort ist durch Privatinitiative ein kulturelles Zentrum mit Vortragsraum und Museum geschaffen worden, ähnlich wie in Georgenburg, wo “Enthusiasten”, wie man russisch sagt, die Burg teilweise gesäubert und ausgebessert und historische Funde zusammengetragen haben.

Besonders deutlich tritt die preußische Geschichte in Gumbinnen/Gussev zutage. Dort trifft man auf die Salzburger. In der Aula der Friedrichschule ist das 1912/13 von Otto Reichert gemalte Wandgemälde “Die Exulanten”, das in sowjetischer Zeit überstrichen worden war, 2008 restauriert worden. Auf deutscher Seite waren der “Salzburger Verein” und die Kreisgemeinschaft Gumbinnen daran beteiligt. “Mir neue Soehne – Euch ein mildes Vaterland” steht unten auf dem Fresko. Der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. heißt in idealisierter Pose die Salzburger Protestanten willkommen, deren Gesichter dankbare Freude zeigen. Das Wandgemälde spielt für die russischen Schüler eine wichtige Rolle. Wettbewerbe werden ausgeschrieben und die besten Arbeiten prämiert. Auch die Salzburger Kirche mit dem Glasbild der Exulanten und das evangelische Gemeindezentrum besuchten die “Freunde Kants und Königsbergs”. 

Das Pfarrhaus von Judtschen nahe Gumbinnen, in dem Kant drei Jahre lang Hauslehrer war, war für sie natürlich ein besonders wichtiges Ziel. Das Kant-Häuschen ist in einem desolaten Zustand, aber die Ausführungen von Igor Jerofejew zum Wiederaufbau waren so konkret, dass auch bei den Skeptikern Hoffnung aufkeimte. Ein Tagungszentrum für Studenten mit Gästehaus soll entstehen. Was gehört noch zur Geschichte Preußens? Die “Freunde Kants und Königsbergs” übernachteten zweimal in Rauschen, heute das mondäne Svetlogorsk, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem beliebten Seebad wurde. Davon zeugen heute noch Villen und Gebäude aus deutscher Zeit, wie etwa der Wasserturm. Nach 1945 blieb es ein Kur- und Erholungsort, besonders für das Militär. Große Sanatorien wurden gebaut, und es war eine Auszeichnung, dort hingeschickt zu werden. Zahlreiche Ferienlager für Kinder gibt es, Attraktionen sind die lange Treppe die Steilküste hinunter zum Strand, die Seilbahn und der Lift. Nach Perestroika wuchs Rauschen/Svetlogorsk und wurde immer eleganter. Große Villen im Stil der deutschen Häuser zeugen vom neuen “Geldadel”, eine internationale Gastronomie lädt ein, exklusive Bernstein-, Schmuck- und Modegeschäfte fallen auf. Aber an der Strandpromenade beherrschen die kleinen Bernsteinhändler das Bild, ebenso an der Hauptstraße, wo man alles, was man für den Strand braucht, in kleinen Holzbuden kaufen kann. Die “Freunde Kants und Königsbergs” konnten die neue “Bernsteinhalle” besichtigen, die in unmittelbarer Nähe der Steilküste soeben fertig geworden ist. Das Brachert-Museum in Georgenswalde war eine weitere Bereicherung des Programms. 

Große Wohnkomplexe, teilweise noch im Rohbau, sind mit Schildern versehen, auf denen Wohnungen zum Verkauf angeboten werden. Rauschen ist ein beliebter Alterssitz für Rentner, erklärte unsere Dolmetscherin, obwohl diese “Kästen” nicht gerade anheimelnd wirkten. Dafür gibt es aber romantische Gebäude im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Teil der Gruppe übernachtete im “Haus Hoffmann”, einem Hotel garni, in dem alles auf den Königsberger Romantiker E.T.A. Hoffmann (1776-1822) ausgerichtet ist. Am Eingang hängt ein Türschild aus Messing mit dem Kater Murr, der hier die Hauptperson zu sein scheint. Das Treppenhaus ist mit Porträts der Zeitgenossen Hoffmanns und mit Gemälden der Stationen seines Lebens ausgestattet, in den Zimmern hängen seine Grafiken, im Frühstücksraum wird der Gast von seinen Selbstbildnissen begrüßt. Auch da gibt es den Kater Murr als kleinen Wandteller. Ein Erlebnis ist der Skulpturengarten, in dem die Gestalten aus Hoffmanns Erzählungen versammelt sind.

Von Rauschen ging es nach Insterburg, unterwegs wurde die restaurierte Ordenskirche von Heiligenwalde/Uschakowo aus dem 14. Jahrhundert besucht, von Insterburg aus ging es nach Gumbinnen, in die Rominter Heide, nach Trakehnen zum “Tempelhüter” und schließlich nach Königsberg. Gerfried Horst und Prof. Dr. Günter Hertel, der leider selbst nicht teilnehmen konnte, hatten eine differenzierte Reiseroute ausgearbeitet. 

Traditionsgemäß werden die “Kant-Tage” am 20. April mit einem Vortrag von Prof. Dr. Wladimir Gilmanov von der Kant-Universität “eingeläutet”, um dann am 22. April mit dem “Bohnenmahl” im Deutsch-Russischen Haus (DRH) ihren krönenden Abschluss zu finden. Prof. Gilmanov nahm seine Zuhörer mit auf eine Reise durch die Geistesgeschichte Preußens und besonders Königsbergs. Prof. Gilmanov sieht in der Geschichte Königsbergs eine “emblematische Probe der Apokalypse” – die Stadt wurde zerbombt und in ihrer Identität zerstört. Dabei sprach er aber auch von “einer historischen Pädagogik Königsbergs”, aus der ein “Gegenmittel für die apokalyptische Erkrankung der Welt” gewonnen werden könne, angesichts der “eskalierenden Gefahr der totalen globalen Selbstvernichtung”. Ein neuer Anfang sei möglich, und zwar wesentlich durch die Lehre Kants, der den Weg “Zum ewigen Frieden” aufzeige – so der Titel seiner berühmten Schrift. Die Stadt am Pregel kann also den Menschen zur Lehrmeisterin werden.

Am 21. April, also am Vortag von Kants Geburtstag, begann die traditionelle Stadtrundfahrt mit dem Besuch der Kaliningrader Kunstgalerie. Die Direktorin Frau Galina Sabolozkaja führte durch die Ausstellung, die die Ruinen von Königsberg zeigt, gemalt von dem Architekten Arsenij Maksimow, und daneben Gemälde von Lovis Corinth, Grafiken von Käthe Kollwitz und die Nehrungsbilder von Ernst Mollenhauer. Historisches Erbe solle erhalten werden, betonte Sabolozkaja und berichtete von dem Projekt, das Geburtshaus von Lovis Corinth in Tapiau zu restaurieren und zum Museum zu machen. 

Gerfried Horst hatte für die Stadtbesichtigung den Schwerpunkt auf die Gebäude von Friedrich Lahrs (1880-1964) gelegt. Die Kunsthalle am Wrangelturm, die “Villa Winter” in Amalienau und das Landesfinanzamt, heute Sitz der Bezirksregierung, zeugen von dem Wirken des Schöpfers des Kant-Grabmals. 1924 zum 200. Geburtstag Kants errichtet, überstand das Grabmal am Dom das Bombardement 1944. Ihm soll es zu verdanken sein, dass die Domruine nicht gesprengt wurde und die Welt heute in dem wiedererstandenen Dom ein kulturelles Zentrum bekommen hat – eines der Zeichen für die “Pädagogik Königsbergs”, von der Gilmanov spricht. 

Im Dom im Kant-Museum eröffneten sieben Nachkommen von Friedrich Lahrs, die an der Reise der “Freunde Kants und Königsbergs” teilgenommen hatten, am 22. April, Kants Geburtstag, eine Friedrich-Lahrs-Dauerausstellung. Als Vertreterin der Familie würdigte Frau Angela Amon das Werk des großen Architekten und Malers. Zwei weitere Reiseteilnehmer, der Flensburger Kunsterzieher und Künstler Andreas von Hippel und sein 12jähriger Sohn Moritz, direkte Nachkommen von Theodor Gottlieb von Hippel dem Jüngeren, eröffneten eine Ausstellung über ihre Vorfahren, den Kant-Freund und Königsberger Stadtpräsidenten Gottlieb von Hippel d. Ä. und Gottlieb von Hippel d. J., lebenslanger Freund E.T.A. Hoffmanns und Verfasser des Aufrufs von Friedrich Wilhelm III. im März 1813: „An mein Volk!“ Zuvor aber fand eine Tagung im “Sackheimer Tor” statt, das jüngste Zeugnis von der Wiederbelebung der Geschichte. Vor einem Jahr innen noch eine Ruine, berichtete das Vorstandsmitglied, die Dolmetscherin Svetlana Kolbanjowa, wurde das Gebäude aus dem 19. Jahrhundert von jungen Leuten restauriert und in ein multikulturelles KunstCafé verwandelt. Den deutschen Gästen trugen mehrere Referenten Projekte und Pläne vor, die ein kulturhistorisches Königsberg schaffen sollen. Stadtführungen werden ausgearbeitet zu Themen wie “Das wissenschaftliche Königsberg” oder “Auf den Spuren von Kant”. Ein “visuelles Königsberg” gibt es bereits, das “Fischdorf” soll erweitert werden und am Wrangelturm soll eine Fußgängerzone entstehen.

Wladimir Gilmanov erwähnte die “heute verlernte Kunst des Lernens aus der Geschichte”. Die Pädagogin am Pregel aber scheint ihren Kindern diese Lektion beigebracht zu haben, und zwar durch ihren größten Sohn. Gilmanov sah es als sicher an, dass die Moderne, also die heutige Zeit, “trotz der akuten Krise von dem Kategorischen Imperativ Kants mit seinem Aufruf zur erbarmungslosen Ehrlichkeit gequält wird”. 

Diese Formulierung klingt eher abschreckend, aber sie ergibt sich aus der Feststellung, dass das moralische Gesetz die uneingeschränkte Grundlage jeglichen Handelns sein muss. Das führt zu einer wohltuenden Hoffnung, und dieser wurde beim “Bohnenmahl” im DRH Ausdruck gegeben. Der Direktor des DRH Andrej Portnjagin begrüßte die Gäste und nannte Kant den “größten Sohn dieser Stadt, der eine Verbindung von der Vergangenheit in die Zukunft herstellt”. Er wies auf die zukunftsgerichteten Projekte der Stadt hin, die schon intensiv mit den Vorbereitungen für das KantJahr 2024 beschäftigt sei.

Er dankte dem Vorsitzenden der “Freunde Kants und Königsbergs” Gerfried Horst und dem Präsidenten der russischen Gesellschaft der „Freunde des Bohnenkönigs” Boris Bartfeld für die arbeitsintensiven Vorbereitungen der “Kant-Tage” und besonders des festlichen Abends. Auch hier klappt die deutsch-russische Zusammenarbeit vorbildlich. 

Der deutsche Generalkonsul Dr. Michael Banzhaf war mit seiner Gattin erschienen und ging in seinem Grußwort auf die Bedeutung einer solchen Veranstaltung ein. Das Erbe Kants sei lebendig, betonte er, das heutige Kaliningrad präsentiere es mit der Benennung der “Kant-Universität”, mit dem Kant-Grabmal und dem Kant-Museum im Dom der Weltöffentlichkeit. Auch das Pfarrhaus in Judtschen möge wieder “erwachen”, sprach er den Anwesenden aus dem Herzen. “Die Erinnerung an Kant ist eine Brücke zwischen Russen und Deutschen”, so der Redner. Er begrüßte die “Bohnenkönigin 2015” Marianne Motherby, auf deren “Bohnenrede” er sich sehr freue, ebenso wie auf das Konzert der Rachmaninow-Musikschule, die auch oft im DRH auftritt.

Gerfried Horst dankte dem Direktor des DRH Portnjagin für die gastliche Aufnahme, ebenso dem Präsidenten des DRH Viktor Hoffmann. “Wir sind hier zu Hause!”, stellte er fest. Am Abend zuvor war im Rahmen der “Kant-Tage” eine Ausstellung über den Zeichner Emil Stumpp eröffnet worden, auch er ein Opfer der Nationalsozialisten und ein Freund Ernst Wiecherts. Gerfried Horst sprach dann aber von den “Töchtern Königsbergs”, Käthe Kollwitz, der 2015 eine Ausstellung im DRH gewidmet war, und Hannah Ahrend, die auch im DRH geehrt wird. Er nannte Kant, Käthe Kollwitz und Hannah Ahrend sogar das “Dreigestirn”.

Marianne Motherby stellte in der “Bohnenrede” ihren Urururgroßvater William Motherby vor, der in Kant, dem sonntäglichen Mittagsgast seiner Eltern, einen väterlichen Freund und Ratgeber hatte. Dabei entwarf sie ein anschauliches Bild des geistigen und gesellschaftlichen Lebens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Den größten Eindruck auf die Zuhörer aber machte es, dass sie ihren Vortrag völlig frei anhand gut ausgewählten Bildmaterials hielt, und das mit einer Fülle von Zahlen und Fakten.

Dann folgte das fröhliche “Bohnenmahl” – und wieder gab es eine “Bohnenkönigin”: die Potsdamer Journalistin Natalie Gommert. Die russischen und deutschen Geburtstagsgäste Kants fühlten sich bereichert, in ihrer Hoffnung auf eine gemeinsame, friedliche Zukunft bestätigt und gestärkt – so gestärkt, dass einige anschließend noch in die Disko im Sackheimer Tor gingen…

Bärbel Beutner 

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