Geschichte

Die Bedeutung einer Epidemie für die Entwicklung der Menschheit aus Sicht von Immanuel Kant, John Fothergill und Egon Friedell

Die aufrüttelnden Ereignisse um die aktuelle Corona-Pandemie mögen dazu anregen, einen Einblick in die Überlegungen dreier Gelehrter aus Medizin und Philosophie zu früheren Epidemien zu erhalten. 

Im Winter 1781/82 gab es in Nordosteuropa eine große Epidemie. Immanuel Kant verfasste dazu eine „Nachricht an Ärzte“, die in den „Königsbergschen gelehrten und politischen Zeitungen“ vom 18. April 1782 erschien. Er berichtete von ihrem Beginn in St. Petersburg und dass sie „an der Küste der Ostsee schrittweise fortging, ohne dazwischen liegende Örter zu überspringen, bis sie zu uns kam und nach und über Westpreußen und Danzig weiter westwärts zog.“ In St. Petersburg wurde die Epidemie „Influenza“ genannt. Kant vertrat die Meinung, sie sei dieselbe Krankheit wie diejenige, die bereits 1775 in London herrschte und gleichfalls „Influenza“ genannt wurde. Es handelte sich in beiden Fällen um eine Grippeepidemie.

Während Kant es den Ärzten überließ, die Symptome der Krankheit festzustellen und die zu ihrer Bekämpfung notwendigen Heilmittel zu finden, interessierte ihn „ihre Ausbreitung und Wanderschaft durch große Länder.“ Er sah sich als ein Forscher, „der diese sonderbare Erscheinung bloß aus dem Gesichtspunkte eines physischen Geographen ansieht.“ Deshalb schlug er „Ärzten von erweiterten Begriffen“ vor, „dem Gange dieser Krankheit, die nicht durch die Luftbeschaffenheit, sondern durch bloße Ansteckung sich auszubreiten scheint, so weit als möglich nachzuspüren.“

Die Ursache für die weltweite Ausbreitung vieler Krankheiten sah Kant im Welthandel:

„Die Gemeinschaft, darin sich Europa mit allen Welttheilen durch Schiffe sowohl als Carawanen gesetzt hat, verschleppt viele Krankheiten in der ganzen Welt herum, so wie man mit vieler Wahrscheinlichkeit glaubt, daß der russische Landhandel nach China ein paar Arten schädlicher Insecten aus dem entferntesten Osten in ihr Land übergebracht habe, die sich mit der Zeit wohl weiter verbreiten dürften.“

Kant sieht die „merkwürdige und wundersame Epidemie“ seiner Zeit als ein die Menschen ergreifendes Phänomen und „ihre Ausbreitung und Wanderschaft durch große Länder“ als ein Geschehen an, das eingehend erforscht werden muss.

Aus diesem Grunde fügte er seiner „Nachricht an Ärzte“ einen genauen Bericht aller Einzelheiten über die Influenza 1775 in London bei; es handelte sich um die deutsche Übersetzung einer Nachricht des englischen Arztes Dr. John Fothergill (* 8. März 1712 in Carr End, Bainbridge in Yorkshire; † 26. Dezember 1780 in London) aus dem „Gentleman’s Magazine“ vom Februar 1776. Fothergill benannte darin Heilmittel, mit denen die behandelnden Ärzte versuchten, die Infektion zu bekämpfen. Aus heutiger Sicht fatal war der Aderlass, da er die Aufnahme des Sauerstoffs in die Lunge verringerte.

Die als Influenza bezeichnete Erkrankung befiel mit hohem Ansteckungsgrad vorzugsweise den Rachenraum und die Lunge, zudem auch die Harnblase und den Darm mit Durchfall („Durchlauf“). Stuhlgänge von „schwarzer gallichter Art“ und dunkelgelbem Urin ließen an eine Hämolyse denken (Abbau roter Blutkörperchen, deren sauerstofftragende Anteile – Hämoglobin – über die Leber und die Gallenblase als Bilirubin in den Darm gelangen bzw. über die Niere ausgeschieden werden). Die Beteiligung des Blutes am Krankheitsgeschehen zeigte sich auch an der Beschaffenheit der Blutkoagel nach Aderlass („zäher platter Kuchen, ähnlich gelbem Talg“).

Die belastenden Symptome wie Rachenschmerzen, Husten und „intermittierendes“ Fieber (hohes Fieber wechselt sich ab mit normalen Temperaturen, z.T. bis zu Frösteln) setzten schnell ein, „oft so plötzlich, dass sie es sogleich merkten“, klangen aber bei Jüngeren nach wenigen Tagen wieder ab. „Kinder blieben nicht gänzlich frei“, waren demnach weniger betroffen; die Sterblichkeit „sehr junger Kinder“ war jedoch höher als normal. Bei alten Leuten, die Asthma hatten, stellte sich allmählich ein „peripneumonisches Fieber“ ein, also der Zustand einer hochfieberhaften Lungenentzündung, die oft mit dem Tode des Patienten endete.

Verwundert zeigte sich Fothergill über die Tatsache, dass es in London wohl niemals zuvor eine epidemische Krankheit gegeben habe, „womit so viele Leute in so kurzer Zeit behaftet worden, und dennoch so wenige gestorben“ seien. Er rief die Ärzte außerhalb Londons auf, ihre Erfahrungen der medizinischen Fakultät mitzuteilen, „damit eine so genaue Nachricht als möglich von dieser Krankheit unseren Nachkommen hinterlassen werden möge.“

Kant erkannte als Universalgelehrter schon damals die „Globalisierung“ als Ursache von Epidemien. Trotz der technischen Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert und des ungeahnten Wachstums der Weltwirtschaft hat sich die Globalisierung seit der Zeit Kants bis heute, im Jahre 2020, nicht grundsätzlich verändert, jedoch in hohem Tempo weiterentwickelt. Medizinisch stehen wir heute durch Präparate, die die antiphlogistische und die immunologische Abwehr unterstützen, wesentlich besser da, ganz zu schweigen von dem Segen vorbeugender Impfungen und der Möglichkeit künstlicher Beatmung der Lunge nach Ausbruch der schweren Form der Erkrankung.  

Vergleichen wir nun diese überlieferten Aussagen von Kant und Fothergill mit dem sich allmählich herauskristallisierenden Verlauf der Covid 19 (Coronarvirus Disease 2019) Pandemie, so zeigen sich viele Parallelen. Die Ansteckungsquote ist in beiden Fällen extrem hoch. Ging man bei Covid 19 anfangs noch von 60 % aus, so ist heute von deutlich höheren Werten die Rede. Bei den Infizierten stellen sich anfangs heftige Entzündungserscheinungen des vorderen Rachenraums ein. Ist die Lunge (Husten) mit betroffen, so klingt die Symptomatik bei jüngeren Menschen relativ schnell wieder ab. Bei älteren Patienten – besonders mit Vorerkrankungen – ruft die Beteiligung der Lunge gravierende Atembeschwerden hervor.

Was können wir aus dem Vergleich der von Kant und Fothergill beschriebenen Epidemien mit der aktuellen Pandemie lernen? Die nahezu identischen Symptome und deren ähnlicher Verlauf lassen darauf schließen, dass es in unregelmäßigen Abständen – neben der alljährlich von Asien und China ausgehenden „normalen“ Influenza vom Typ H2N2 (Grippeschutzimpfung) – zu Mutationen des SARS-Corona-Typs kommt. Wegen der hohen Ansteckungsgefahr und der steigenden Todesrate stellten und stellen die Pandemien eine große Herausforderung nicht nur an die Medizin, sondern auch an die Gesellschaft dar. Auch wenn die Virus-Grundlagenforschung heute auf einem wissenschaftlich hohen Niveau angelangt ist, so ist jede neue Virus-Mutation hinsichtlich seiner Pathogenität und Virulenz mit einem Fragezeichen behaftet. Zur Entwicklung geeigneter Impfstoffe ist eine umfangreiche immunologische, labormedizinische, ja selbst epidemiologische Grundlagenforschung erforderlich. Möge die moderne Forschung auf die „Nachricht an Ärzte“ Immanuel Kants und den Bericht John Fothergills mit ihren detaillierten Hinweisen auf den Ablauf der Epidemien 1775 und 1782 aufmerksam werden und diese in die Grundlagenforschung über SARS-CorV-2 einbeziehen!

Das bisher Gesagte bezieht sich auf die Medizin, die Epidemiologie und die Geographie im Hinblick auf das weltweit in unterschiedlichen Mutationen immer wiederkehrende Virus. Die Epidemien und Pandemien in früheren Jahrhunderten und heute geben aber auch Anlass zu einer philosophischen Betrachtung. Der Schriftsteller und Kulturphilosoph Egon Friedell (* 21. Januar 1878 in Wien; † 16. März 1938 ebenda) weist Krankheiten eine wichtige Rolle in der menschlichen Geschichte zu.

In seinem Werk „Kulturgeschichte der Neuzeit“ hat er sich eingehend mit der Pest-Pandemie befasst, die am Ausgang des Mittelalters im 14. Jahrhundert von Europa plötzlich Besitz ergriff. Er stellt fest:

„Eine neue Ära beginnt nicht, wenn ein großer Krieg anhebt oder aufhört, eine starke politische Umwälzung stattfindet, eine einschneidende territoriale Veränderung sich durchsetzt, sondern in dem Moment, wo eine neue Varietät der Spezies Mensch auf den Plan tritt. Denn in der Geschichte zählen nur die inneren Erlebnisse der Menschheit. Aber der unmittelbare Anstoß wird doch sehr oft von irgendeinem erschütternden äußeren Ereignis, einer allgemeinen Katastrophe ausgehen: einer großen Epidemie, …  

Also: mit dem aufgehenden sechzehnten Jahrhundert ist die Neuzeit in die Welt getreten; aber im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert ist sie entstanden, und zwar durch Krankheit. Dass nämlich Krankheit etwas Produktives ist, diese scheinbar paradoxe Erklärung müssen wir an die Spitze unserer Untersuchungen stellen.“

………

 „Die Geburtsstunde der Neuzeit wird durch eine schwere Erkrankung der europäischen Menschheit bezeichnet: die schwarze Pest.“

……….

„ …… dass jedes Zeitalter sich seine Krankheiten macht, die ebenso zu seiner Physiognomie gehören wie alles andere, was es hervorbringt: sie sind gerade so gut seine spezifischen Erzeugnisse wie seine Kunst, seine Strategie, seine Religion, seine Physik, seine Wirtschaft, seine Erotik und sämtliche übrigen Lebensäußerungen, sie sind gewissermaßen seine Erfindungen und Entdeckungen auf dem Gebiete des Pathologischen. Es ist der Geist, der sich den Körper baut: immer ist der Geist das Primäre, beim einzelnen wie bei der Gesamtheit. … Der »neue Geist« erzeugte in der europäischen Menschheit eine Art Entwicklungskrankheit, eine allgemeine Psychose, und eine der Formen dieser Erkrankung, und zwar die hervorstechendste, war die schwarze Pest. Woher aber dieser neue Geist kam, warum er gerade jetzt, hier, wie er entstand: das weiß niemand; das wird vom Weltgeist nicht verraten.“

Gehört die Corona-Pandemie zur Physiognomie unseres Zeitalters? Haben wir sie vielleicht ebenso hervorgebracht wie unsere Religion, unsere Wirtschaft, unsere weltweit vernetzten Lieferketten, unsere Erotik und alles andere? Wenn wir es für selbstverständlich halten, mit Hilfe eines kleinen, in China hergestellten Täfelchens, Smartphone genannt, jederzeit mit jedem Menschen in der Welt sprechen und ihn sehen zu können, gehört dann nicht auch dazu, dass wir und alle Menschen fast gleichzeitig von dem gleichen Virus erfasst werden können? Dass Ereignisse weltweit gleichzeitig, „in real time“, übertragen werden, ist kennzeichnend für unser Zeitalter. Es passt dazu, dass auch das Corona-Virus infolge des hohen Ansteckungsrisikos und unserer weltweiten Mobilität innerhalb kürzester Zeit überallhin übertragen werden kann.

Wie der neue Geist im 14. Jahrhundert in der europäischen Bevölkerung eine Art Entwicklungskrankheit in Form der schwarzen Pest erzeugte, so kann man, Egon Friedell folgend, der Ansicht sein, dass der heutige Geist der Globalisierung und Digitalisierung eine Art Entwicklungskrankheit in Form der Corona-Pandemie erzeugt hat. Diese Krankheit könnte etwas Produktives haben; sie könnte eine neue Ära der Menschheit einleiten, in der „eine neue Varietät der Spezies Mensch auf den Plan tritt.“

Was für ein neuer Mensch kann das sein, der da in Erscheinung tritt?

Wir wissen es nicht, können aber aus dem Verhalten der Menschen in der gegenwärtigen Corona-Pandemie gewisse Schlüsse ziehen. Junge Leute machen Einkäufe für ihre alten Nachbarn, die sie bis dahin kaum kannten. Der Zwang, zuhause zu bleiben, führt dazu, dass Menschen miteinander telefonieren und sich nach dem Befinden von Verwandten und Bekannten erkundigen, mit denen sie den Kontakt schon fast verloren hatten. Viele Menschen zeigen sich freundlicher und hilfsbereiter als sonst.

Ärzte und Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altenheimen erbringen übermenschliche Leistungen. Sie betrachten es als ihre Pflicht, ihren Mitmenschen zu helfen. Immanuel Kant hat ein solches Pflichtbewusstsein als „Kategorischer Imperativ“ bezeichnet und diesen wie folgt definiert:

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Das Produktive der Corona-Pandemie könnte sein, dass sie neue Lebensformen erzeugt, die auch nach dem Abklingen der Pandemie bestehen bleiben und sich weltweit zu einer Kultur gegenseitiger Hilfe weiterentwickeln. Nach Kants Meinung bewegt sich die Geschichte der Menschheit hin zu einem gesellschaftlichen Zustand, in dem die Natur „alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann.“ Der einzige Zustand, in dem das denkbar wäre, ist der Zustand eines allgemeinen Friedens. Immanuel Kant hat dieses Ziel im Jahre 1795 in seinem Traktat „Zum ewigen Frieden“ wie folgt beschrieben:    

„Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Codex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.“

Worin könnte das Produktive der Corona-Pandemie bestehen? Ist sie eine Entwicklungskrankheit der Menschheit, um dem „ewigen Frieden” Kants, dem Frieden unter den Völkern, einen Schritt näher zu kommen?    

Berlin, den 26. März 2020

Gerfried Horst
Vorsitzender, FREUNDE KANTS UND KÖNIGSBERGS e.V.

Marianne Motherby
Stellvertretende Vorsitzende, FREUNDE KANTS UND KÖNIGSBERGS e.V.

Dr. med. Eberhard Neumann-Redlin von Meding
Schriftführer, BERLINER MEDIZINISCHE GESELLSCHAFT

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