Philosophie

Kant und die Teleologie der Anfänge in der Königsberger Ideengeschichte

Was bedeutet “Teleologie”? Es ist eine Entwicklung auf ein bestimmtes Ziel hin. Kant unterscheidet zwischen “Ziel” und “Zweck”. Wir wissen nicht, ob die Natur ein Ziel hat, aber einen “Zweck” wollen wir organisieren. Das sollte die moralische Entscheidung sein, die Geschichte so zu gestalten, dass sie zum ewigen Frieden führt.

Der amerikanische Politologe und Philosoph Fukujama, Verfasser der in den neunziger Jahren des XX. Jahrhunderts sensationellen Theorie über “das Ende der Geschichte und den letzten Menschen” (so der Titel seines weltbekannten Buches von 1992), in dem er den ausgewogenen Triumph des liberal-demokratischen Modells als essentieller Grundlage der lebensfähigen Zukunftsentwicklung verkündet hatte, erklärte vor kurzem in einem Interview für amerikanische “Foreign affairs”, dass das moderne Zivilisationsmodell eine akute Krise verursacht habe. Ist es nicht ein indirekter oder direkter Hinweis auf das Ende des “Endes der Geschichte” und auf die Notwendigkeit eines neuen Anfangs? Wenn ja, wo sind dann die Anfänge für den neuen Anfang zu suchen? In den Theorien des etwas müde gewordenen Fortschrittsoptimismus oder in der verlernten Kunst des Lernens aus der Geschichte? Und was wären die Voraussetzungen für den einen neuen Anfang, wenn man diejenige Diagnose akzeptiert, dass im breiten welthistorischen und kulturpolitischen Horizont die moderne Zivilisation alle bekannten Symptome der paradigmatischen Systemkrise zeigt, was durch einen zunehmenden Mangel an dem Mut zum Sein und eine peinliche Müdigkeit bei der Suche nach einem aufklärenden Ausgang “aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit” (so Kant in seinem Artikel) begleitet wird?
Das Denken an einen Anfang ist ein guter Anlass zum kritischen Umdenken und Nachprüfen, inwieweit die moderne technokratisch und materialistisch geprägte Hermeneutik eine tragfähige ontologische und anthropologische Grundlage für das planetarische Überleben bleiben kann.

Der vokative Impuls zum kritischen Überlegen über “das Ende aller Dinge” (so auch der Titel des Artikels Kants von 1794), gleichfalls aber über die Notwendigkeit eines neuen Anfangs, geht auch von einem Phänomen des Weltgeschehens aus, dessen wechselreiche dramatische Geschichte es zu einem exemplarischen “Emblem der Apokalypse durch menschliche Hand” 1 (so Klaus Garber) macht – das Königsberg in Preußen, heute Kaliningrad. (1Siehe: Klaus Garber: Apokalypse durch Menschenhand. Königsberg in Altpreußen – Bilder einer untergegangenen Stadt und ihrer Memorialstätten in: Kulturgeschichte Ostpreußens in der frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber. Tübingen: Niemeyer, 2001. 3-116.) Denn die bemerkenswerte heterogene Ideendramaturgie dieses Landes zeigt etwas, was sie zu einem homogenen Integral verbindet, dessen Sinn pauschal zu bezeichnen wäre als Suche nach einem Gegenmittel für die apokalyptische Erkrankung der Welt. Es fängt an mit der Reformationszeit in Preußen im 16. Jahrhundert und mit der entscheidenden Persönlichkeit Herzog Albrecht, dessen Reformationswille soteriologisch, also durch den Glauben an ein Erlösungswerk, an einen Retter geprägt war. Luther pries das Wunder, dass das Evangelium nach Osten segelte, dass also die Reformation in Preußen und im Ostseeraum friedlich vonstatten ging, und Herzog Albrecht sah eine wechselseitige Verbindung von Glauben und Politik. Mit der Vernunft des Politikers und mit dem Glauben des Christen ging er an sein Werk, den Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum umzuwandeln und so den Staat vor dem Untergang zu erretten. Im 17. Jahrhundert wurde die Geschichte als “Krankheit zum Tode” von den “der Sterblichkeit Beflissenen” angesehen, die die Welt als “Kürbishütte” bezeichneten. Der Kürbis ist eine kurzlebige Pflanze und wurde von einer vom Geist der Apokalypse geprägten Epoche zum Sinnbild gewählt. Simon Dach’s Klage über den Untergang der “Kürbishütte” in Königsberg ist eine Klage über die Endlichkeit, aber auch ein Aufruf zum Neuanfang. Diese Suche nach einem Gegenmittel angesichts apokalyptischer Bedrohungen wird über Kant und Hamann im 18. Jahrhundert abgeschlossen mit der Moderne, die trotz der akuten Krise von dem “kategorischen Imperativ” Kants mit seinem Aufruf zur erbarmungslosen Ehrlichkeit gequält wird. Diese Ideengeschichte – auch im Kontext der historischen Pädagogik Königsbergs als emblematischer Probe der Apokalypse – zeigt die Notwendigkeit eines neuen Anfangs, dessen Grundsätze die modernen weltpolitischen Eliten zu einem weltumfassenden Interim in der sich verschärfenden Situation an den Konfliktgrenzen zwischen den Weltregionen bewegen könnten, zu einer Art der ideographischen Interpellation, denn “nichts ist schrecklicher als tätige Unwissenheit” (so Goethe). Das Interim wäre eine soteriologische Notmaßnahme zwecks der realpolitischen Blockierung der eskalierenden Gefahr der totalen globalen Selbstvernichtung als auch zwecks des Aufarbeitens der anthropologisch versöhnenden Grundlage eines ausgeglichenen weltumfassenden Paradigmas für den Ausgang aus der Weltkrise, für einen neuen Anfang…

Das Thema “Anfang” ist in der Tat entscheidend, denn in der Tradition sowohl der geistes-, als auch der naturwissenschaftlichen Gelehrsamkeit ist der Anfang die Kategorie, die alles ontologisch präformiert, d.h. die Geschichte entweder zum “Sein zum Tode” macht (so Heidegger), oder aber zum “ewigen Frieden” und nicht “auf dem Kirchhof der Menschengattung”, sondern in einem weltbürgerlichen “Völkerbund” (so Kant) ohne physische oder kriegspolitische Apokalypse. Denn gerade der Anfang entscheidet:

  • in der Ontologie, was oder wer die Zeiträume krümmt und die Galaxien auseinander treibt;
  • in der Ästhetik, was oder wer das Ding schön heißen lässt, d.h die ästhetische Urteilskraft bedingt;
  • in der Praxiologie, was oder wer zu einer dominierenden Handlungsweise bewegt usw.

Letztendlich hat der Anfang mit der Grundproblematik zu tun, die Kant mit dem “Ende aller Dinge” verbindet, dementsprechend aber mit dem aufklärenden Anfang. Das ist seine Frage im “Kanon der reinen Vernunft”, die später in den anderen Texten entscheidend für alle Anfänge neu aufgeworfen wird: Was ist der Mensch in seiner essentiellen Wesenheit? “Ein Bürger der Natur”, “ein Bürger der Kultur” oder eine unfassbare Singularität, die transzendental mit der Unendlichkeit sowohl des “bestirnten Himmels über mir”, als auch mit jeder einzelnen Persönlichkeit durch “das moralische Gesetz in mir” verbunden ist?

Im heutigen anthropologischen Diskurs könnte man die Kantische Frage etwas anders formulieren – Ist der Mensch eine biopsychische Lustmaschine, die durch Materie dirigiert wird? Oder ist er ein zur Freiheit befähigtes Wesen, sei es die Freiheit im Kantischen oder im christlichen Sinne?

Diese Fragestellung Kants ist gerade auf die Problematik des Anfangs angewiesen, d.h. auf die Ur-Energie, die alles bewegt und an der der Mensch in seiner Essenz entweder teilnehmen kann und darf oder nicht teilnehmen kann und darf. Kant war vorsichtig gegen diese für ihn noumenale Naturenergie des “Dinges an sich”, und er rechnete mit der regulativen Verantwortung der praktischen Vernunft sowohl in sittlich-moralischer als auch in ästhetischer Hinsicht, als ob er die heute erkannten Gefahren der Objektivierungsmacht der “Chimären der Eingebung” oder der subjektzerstörenden Phantasien schon erkannt hätte. Die Königsberger romantischen Imaginationen, z.B. im Werk von Heinrich von Kleist oder von E.T.A. Hoffmann, erweisen sich als “Imaginationen des Endes”, denn gerade durch die “Chimären” verlieren die romantischen Subjekte nach dem “Ende der Transzendenz” die letzten essentiellen immanenten Eigenschaften des wahren Menschseins, in der Symbolik der Romantik den Schatten oder das “schöne ähnliche Spiegelbild”, wie in E.T.A. Hoffmann’s Erzählung “Die Abenteuer der Silvesternacht”. Die Philosophen bezeichnen diese Verluste mit dem Begriff der Ex-zendenz aus der Existenz, d.h.: der Austritt aus dem Sein, das Verschwinden seienden Daseins. Reales transformiert sich zu Irrealem, was aber von den meisten für Reales gehalten wird. Das Geheimnis der romantischen Eingebung über das Verschwinden der Realität vertieft sich noch und wird noch mysteriöser, denn Hoffmann verbindet es einerseits mit dem Verschwinden des Spiegelbildes, andrerseits mit der Entwicklung einer neuen, dämonisch beherrschten Ontologie durch das Mysterium eines neuen Sehens in der Abwesenheit des verlorenen Spiegelbildes, wie in Hoffmann’s grausiger Novelle “Der Sandmann”. Dapertuttos dämonisches Unternehmen mit dem Diebstahl des “schönen ähnlichen Spiegelbildes” (nach dem Wort des Helden in den “Abenteuern der Silvesternacht”) wird von dem Sandmann Coppelius vollendet, denn in die Sehkraft der historischen Subjektivität in der Gestalt von Nathanael ist ein neues Spiegelbild eingedrungen, das den göttlichen Kosmos in dessen Perversion verwandelt.

An dieser Stelle sei noch einmal erinnert an Kants Warnung vor der Gefahr, dass das Vermögen der reinen Vernunft, durch moralisch fundierte Regulative gegen das Mysterium des dämonischen Spiels zu wirken, verschwinden könne, vor allem durch das Geheimnis des Schönen. Das ethikotheologische Maximum Kants in Bezug auf diese Kategorie ist das Geheimnis des Paragraphen 59 der “Kritik der Urteilskraft” unter dem Titel “Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit”. Das Paradoxon der Kantischen Methode ist, dass die Vorstellung über den Gegenstand, sei es Natur, Kunstwerk oder Handlung in der Erscheinung, nie das freie Begehrungsvermögen bedingen darf, d.h. den freien Willen angeben kann oder dem moralischen Gesetz vorangehen darf. Die einzige Freiheit ist die des moralischen Gesetzes, das unmittelbar den in der Vernunft innewohnenden freien Willen bestimmen und selber Gegenstände bedingen soll als etwas, was mit dem freien Willen in Übereinstimmung stehen sollte. D.h.: wenn die Vernunft in Bezug auf das Begehrungsvermögen gesetzgebend ist, dann ist dieses Vermögen gesetzgebend in Bezug auf Objekte. Die praktische Vernunft als Gesetz der freien Ursächlichkeit soll nach Kant “über Ursächlichkeit für Erscheinungen verfügen”. Das praktische Interesse als Verhalten der Vernunft zu Objekten besteht nach Kant nicht darin, sie zu erkennen, sondern sie zu verwirklichen. Deswegen ist die Schönheit die Selbstverwirklichung des Objekts, deren Ursache in dem freien Willen, d.h. in der Sittlichkeit liegt. Die Schönheit richtet sich nicht nach dem Objekt, sondern nur auf das Subjekt, genauer auf das einheitsstiftende “Vermögen der Ideen” des Subjekts.

Das gilt auch nach Kant für das teleologische Prinzip in der Natur: “Ein organisiertes Produkt [d.h. ein Naturorganismus] ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos oder einem blinden Naturmechanismus zuzuschreiben” (Paragraph 66). Nur: der Begriff des Zwecks stammt aus dem Bereich des menschlichen Handelns… Dadurch erklärt sich auch eine der Kantischen Definitionen des “kategorischen Imperativs”: “Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte”. Eigentlich ist es eine transzendentale Rehabilitation der Physik-Theorie von Aristoteles: Natur sei Anfang der Bewegung. Entscheidend ist aber, was oder wer der Anfang ist: Gravitation (S. Hawking) oder das göttliche erotische Triebwerk (Aristoteles), Naturwille zur Macht (Nietzsche) oder die moralische Maxime deines Willens (Kant)… Man kann fortfahren bis zur Konjunktion “Gottes Gebot oder Pakt mit dem Teufel”… Die Königsberger Romantik entwickelt in einer neuen Qualität die Grundproblematik jeder Philosophie des Anfangs, die schon in Hesiods “Werke und Tage” angedeutet ist: Das Geheimnis des Eros. Seit dem Mythos über Platons Liebe und Aristoteles’ Lehre über die vier Kausalitäten bis Freud und Herbert Markuse bleibt der Anfang und dementsprechend das Ende immer mit dem Geheimnis der Liebe verbunden. Wenn der Teufel in Thomas Manns “Roman einer Endzeit” zu Adrian Leverkühn sagt: “Du darfst nicht lieben”, so bedeutet das: Du, Mensch, darfst nicht lieben, was die immerwährenden Anfänge des Lebens bewahrt. Denn lieben, was Dich zerstört, darfst Du!

Das Ende jedes Anfangs bedingt die Liebe, die am Anfang steht. Das Mysterium des Zeitgeistes ist immer das der Liebe, was auch Thomas Mann in seiner Königsberger Novelle “Mario und der Zauberer” künstlerisch entdeckt. Sie erscheint, ohne vorhergehende Absicht, im Juli 1929, als Thomas Mann mit Frau und Kind, eingeladen von der Königsberger Goethe-Gesellschaft, im Badeort Rauschen und in Königsberg war. Es scheint so, als ob sie, so später Mann, “aus der Luft entstand”. Und das war die Luft des Topos, in der sich die zwei Geisterwelten miteinander kreuzten – die “mariologische” (Mario ist der Name des einzigen “Widerstandskämpfers” gegen den Zauberer Cipollo in der Novelle) des humanistischen Nobelpreisträgers Thomas Mann und die dämonische des kommenden “Zauberers” der deutschen Nation Adolf Hitler. Die beiden traten vor dem Königsberger Publikum in demselben Raum auf – in der Stadthalle, Hitler im Mai 1929, Thomas Mann zwei Monate später. Dem Cipollo gelang es durch seine Magie, dem Publikum alles zu nehmen – Verstand, Wille, bewusste Urteilskraft… Es blieb nur die Liebe, um deren Geheimnis er gut Bescheid wisse, so Cipollo zu Mario, der letztendlich den scheußlichen Zauberer küsste, ihn dann aber, wieder zu sich gekommen, auf der Bühne erschoss, also öffentlich hinrichtete, eigentlich im Namen der “mariologischen” Liebe zur Wahrheit… Anders aber ist es mit der Liebe zu Hitler, deren Partnerin auf beinahe mystische Weise Eva Braun hieß, also das “braune Leben”.

“Aus der Luft” des preußischen Topos entsteht Thomas Manns Anfang mit dem Problem des “intellektuellen Faschismus”, dem er den Mythos wegzunehmen und ihn ins Humane umzufunktionieren versuchte (so in seinem Brief vom 14.11.1941 an den Altphilologen und Mythenforscher Karl Kerenyi). Was war das Ende dieses humanistischen Unternehmens, dessen Anfang ich mit der Pneumatologie des Königsberger Topos verbinde? – das Ende des Unternehmens gegen die historischen Kreisläufe der erotischen Todesfuge? Und ob wir heute “die Kreisläufe schon kennen”, wie Joseph in Thomas Manns Roman “Joseph und seine Brüder” denkt, dessen Teile Thomas Mann dem Königsberger Publikum 1929 vorlas, um uns von der Liebe zum Tode durch humanistische Aufklärung befreien zu können? In seinem “Versuch über Schiller”, verfasst kurz vor seinem Tod 1955, erreicht Thomas Manns “Transzendenz der Verzweiflung” (so Leverkühn in “Doktor Faustus”) die gefährliche Grenze der totalen Ent-hoffnung. Er schreibt über eine “grausame Verwilderung”, über die verkannten Konsequenzen und Lehren der beiden Weltkriege, über eine ratlose “Verwirrung der Gemüter”, was das kollektive Unvermögen gegen die Gefahr des letzten, das Ende aller Dinge herbeiführenden dritten Krieges zeigt… Er schreibt über Taubheit und Blindheit der Moderne gegen alle Anfänge, die den beinahe wollüstigen Drang nach dem Ende im Abgrund des Seins stoppen könnten…

BILANZ

Wir leben in einer geheimnisvollen Epoche der sich zuspitzenden Individualitäten und des zunehmenden Mangels an der verbindenden humanen Intersubjektivität. Ist es nicht das, was auch Kant erkannt hat in seinem aufklärungssüchtigen Vokativ mit dem Du-Akzent? “Handle (Du!) so, dass die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.” Oder in dem für mich besten Friedenstraktat “Zum ewigen Frieden”, wo Kant andeutet, dass mein Verstoß gegen den “kategorischen Imperativ” “an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird” (VI, 216). Es ist so, dass Kant schon als einer der ersten in der Moderne, d.h. nach dem “Tod Gottes”, auf eine anthropologische Tatsache hinweist: Wir leben in der Epoche der letzten anthropologischen und gleichfalls ontologiebildenden Singularitäten, was letztendlich mit einer Sage aus den klassisch-altindischen Lehrgedichten, den Upanisaden korrespondiert. Das ist die Geschichte über einen stolzen Schüler Svetaketu, dem alles im Studium leicht fiel. Und am Ende der Schulzeit ließ ihn sein Lehrer eine Olivenbaumfrucht holen und sprach zu ihm: “Die Frucht enthält ein Geheimnis. Schneide sie entzwei und sage mir, was du siehst!” “Ich sehe viele kleine Samenkörner, aber kein Geheimnis.” “Schneide weiter!”, sprach der Lehrer. “Und jetzt?” “Ich sehe die kleine weiße Schnittfläche, aber kein Geheimnis!” Und der Lehrer sagte: “Du siehst und du siehst nicht, Svetaketu! In diesem Samenkorn befindet sich ein großer Olivenbaum. Aber wie du den Baum im Samen übersiehst, so übersiehst du das Wichtigste, und zwar die Kraft, die das All zusammenhält. Das ist die Lebenskraft. Das ist das Selbst. Das bist du, Svetaketu! Das Wichtigste, das du nicht kennst, bist du!”

Dieselbe Herausforderung Kants steht als Anfang seiner kritischen Periode – “Was bin ich?” = “Was ist der Mensch?” Sein Zeitgenosse Johann Georg Hamann, der christlich gläubige “Magus im Norden”, antwortet: “Ich bin ein Brudermörder und ich habe das Band der Natur entzweigeschnitten. Ich glaube aber, und Glaube ist das Himmelreich und die Hölle in uns. Ich hoffe aber, Gott verstehe mich!” Kant will aber anders glauben trotz einer “bösartigen Natur des Menschen”: Er glaubt an unser Vermögen frei zu werden, auch von dem “widernatürlichen Ende aller Dinge, welches von uns selbst, dadurch dass wir den Endzweck missverstehen, herbeigeführt wird” (VI, 182).

Im Zeitalter der Aufklärung zeigt Kant die Weisheit, zwischen mündig und unmündig zu unterscheiden, und erhebt sie zu der höchsten Hoffnung der Moderne. Zu unterscheiden im Maß der wahren Essenz des Menschen zwischen dem Hang zu kritiklosem Gottvertrauen, der öfter im Fanatismus, Fundamentalismus und Extremismus landet, die Eigenverantwortung minimalisierend, und dem ebenso häufigen blinden Szientismus, d.h. dem grenzenlosen Wissenschaftsglauben mit seiner Vorstellung, der Mensch sei eine denkende Materie. Die polaren Gefahren der einseitigen Physik und der extremen dogmatischen Metaphysik sind die Ursachen dafür, dass der Mensch immer wieder zerrissen und entfremdet wird von seiner essentiellen Eigenschaft, die nach Kant gerade in der Freiheit besteht. Die wiederum lässt sich durch eine gegen jede Arroganz des Anspruchs auf den Besitz der Wahrheit wirkende Ehrlichkeit erkennen. Diese ist die Ehrlichkeit der Grenzen meines menschlichen Ichs sowohl zur Physik als auch zur Metaphysik. In meiner Erfahrung dieser Ehrlichkeit gibt es aber etwas, was ich nicht verkennen kann und nicht verraten darf – der unbedingte Wille zu meinem moralischen Handeln, unabhängig sowohl von der Physik als auch von der Metaphysik, d.h. frei, denn durch keine der beiden Determinierungsformen bedingt, weder durch natürliche noch durch übernatürliche!

Dieses Philosophieren Kants ist sensationell in seiner Präzision der Begutachtung der modernen Sachlage, denn wir alle leben in der Epoche des wohl letzten Kampfes um die Freiheit im Kantischen Sinne, und dieser Kampf betrifft alle Lebensbereiche in der sich globalisierenden Welt, die gesamte Zivilisationsarchitektonik. Kants Ideen zeigen einen denkwürdigen Weg zu der Ethik des Gemeinwesens, die die Rehabilitation des praktischen Mutes zum Miteinandersein voraussetzt und jeden Rechtsbegriff mit einer für Kant notwendigen Ehrlichkeit eines jeden mündigen Bürgers verbindet: “Obgleich der Satz: Ehrlichkeit ist die beste Politik, eine Theorie enthält, der die Praxis, leider! sehr häufig widerspricht: so ist doch der gleichfalls theoretische: Ehrlichkeit ist besser denn alle Politik, über allen Einwurf unendlich erhaben, ja die unumgängliche Bedingung der letzteren” (VI, 229).

Vielleicht wäre diese Kantische Ehrlichkeit der erste Schritt zu einem notwendigen besonnenen Interim in der modernen Weltsituation, damit wir alle wirklich mit einem neuen rettenden Anfang anfangen könnten… 

© Prof. Dr. Wladimir Gilmanov

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