Philosophie

Kant als Lehrer der Ungelehrten

Das ist mein Thema. Der Unterschied zwischen den Gelehrten und den Ungelehrten wird in einem russischen Sprichwort beschrieben, das auf Deutsch sinngemäß lautet:

„Wissen ist Macht, Unwissenheit ist Nacht.“
Durch ein Wortspiel im Russischen kann dieses Sprichwort wie folgt abgewandelt werden:
„Wissen ist Macht; die Unwissenden sind eine Masse.“
Es gibt noch eine weitere, ironische Variation dieses Sprichworts:
„Wissen ist Macht; Unwissenheit ist: Es wird schon hell, macht euch an die Arbeit!“

Was bedeutet den Menschen, die jeden Morgen früh aufstehen und zur Arbeit fahren müssen, die Lehre Kants? Was bedeutet die Lehre Kants den Arbeitslosen, den Rentnern, was bedeutet sie der großen Mehrheit der Menschen in Europa und in der Welt? Die Antwort auf diese Fragen kann nur lauten: Nichts.

Auch die studierende Jugend kennt Kant kaum. Die wenigen, die etwas von Kant gehört haben, z. B. von seinem kategorischen Imperativ, denken darüber vielleicht wie die jungen russischen Nihilisten am Ende des 19. Jahrhunderts, die Fürst Peter Alexejewitsch Kropotkin in seinem Aufsatz „Die moralischen Grundlagen des Anarchismus“  beschreibt. Sie stellten sich die Frage, warum sie eigentlich moralisch sein sollten:

„Bin ich etwa unmoralisch, weil Kant mir von dem kategorischen Imperativ erzählt, dem geheimnisvollen Befehl, der in der Tiefe meines „ich“ entsteht und gebietet, moralisch zu sein? Aber warum hat dieser „kategorische Imperativ“ mehr Rechte auf meine Handlungen als ein anderer Imperativ, der mir von Zeit zu Zeit gebietet, mich zu betrinken?“  (Pjotr Kropotkin, Anarchija, …EKSMO-Press, Moskva 1999, S. 795/6 – übersetzt von G.H.)

Das von Kant angenommene „moralische Interesse“ als „Triebfeder des Willens“, „das moralische Gefühl“ haben die jungen Russen jener Zeit also nicht  in sich entdeckt.

Die Lehre Kants gehört heute den Gelehrten, den Philosophieprofessoren, die wissenschaftliche Werke über die Philosophie Kants verfassen und internationale Kant-Kongresse veranstalten. In die Welt außerhalb akademischer Fachkreise dringen ihre Erörterungen nur dann, wenn in Feuilletons intellektuell anspruchsvoller Zeitungen darüber berichtet wird. Das gilt nicht nur für die Lehre Kants, sondern für Philosophie überhaupt. Selbst gebildete Menschen, die nicht Philosophie studiert haben, sind der Meinung, Philosophie sei ihnen keine Hilfe im Leben. Die große Mehrheit aller Menschen, die keine Intellektuellen sind, die Ungelehrten, denken ebenso. Philosophie existiert für sie nicht. Es sieht so aus, als ob sie den meisten Menschen auch gar nicht zugänglich sein könne. Die Lehre Kants erfordert ein mühevolles Studium. Nur wenige gelangen dazu, Kants Hauptwerke zu verstehen. Kant selbst hat  in der Widmung der 1. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ an den Freiherrn von Zedlitz seine Arbeit bezeichnet als „Bemühungen, deren Nutzen groß, obzwar entfernt ist, und daher von gemeinen Augen gänzlich verkannt wird.“ In der Vorrede zur 1. Auflage sagt Kant, er habe sein Werk „im trockenen, bloß  s c h o l a s t i s c h e n  Vortrage“ abgefasst, weil „… diese Arbeit keinesweges dem populären Gebrauche angemessen werden könnte und die eigentliche Kenner der Wissenschaft diese Erleichterung nicht so nötig haben, …“.

Anscheinend hat Kant also seine Werke für die Gelehrten geschrieben, die sie verstehen können, und nicht für die Ungelehrten. So sagt er in seinem  berühmten Aufsatz: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“: „Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand  a l s  G e l e h r t e r  von ihr vor dem ganzen Publikum der  L e s e r w e l t  macht.“ Die Leserwelt war zu Kants Zeiten der Kreis der Gebildeten; drei Viertel des einfachen Volkes konnten nicht lesen und schreiben.

Der Eindruck, als wende Kant sich mit seiner Lehre allein an Gelehrte, täuscht jedoch. Kant war selbst ein Sohn des Volkes. Sein Vater war ein einfacher Handwerker, seine Mutter  – Anna Regina Reuter – eine einfache Frau, Tochter eines aus Nürnberg stammenden Handwerkers. Vor allem die Mutter war es, unter deren liebevoller Anleitung der junge Immanuel Kant anfing, die Welt wahrzunehmen und über sie nachzudenken. Kants Schüler und Biograph Jachmann schreibt darüber: „’Meine Mutter’ , so äußerte sich oft Kant gegen mich, ‚war eine liebreiche, gefühlvolle, fromme und rechtschaffene Frau und eine zärtliche Mutter, welche ihre Kinder durch fromme Lehren und durch ein tugendhaftes Beispiel zur Gottesfurcht leitete. … Ich werde meine Mutter nie vergessen, denn sie pflanzte und nährte den ersten Keim des Guten in mir, sie öffnete mein Herz den Eindrücken der Natur; sie weckte und erweiterte meine Begriffe, und ihre Lehren haben einen immerwährenden heilsamen Einfluss auf mein Leben gehabt.’

Wenn der große Mann von seiner Mutter sprach, dann war sein Herz gerührt, dann glänzte sein Auge und jedes seiner Worte war der Ausdruck einer herzlichen und kindlichen Verehrung.“

Der Tod seiner Mutter muss den 13jährigen Jungen Immanuel zutiefst ergriffen und sein weiteres Leben geprägt haben.  

Man könnte die Auffassung vertreten, dass Kant die Belehrungen seiner Mutter, die sie ihm mit natürlichem Verstande und aus ihrem edlen Herzen heraus gab, aufbewahrte, kritisch untersuchte und eine wissenschaftlich gesicherte Begründung dafür ausarbeitete. Das bestätigt Kants Schüler und Biograph Borowski, der über Kants Eltern schreibt: „Der Vater forderte Arbeit und Ehrlichkeit, besonders Vermeidung jeder Lüge; – die Mutter auch noch Heiligkeit dazu. … Diese Forderung seiner reinen praktischen Vernunft, heilig zu sein, war schon sehr frühe die Forderung seiner guten Mutter an ihn selbst.“  Borowski hat Kant seinen Entwurf einer Biographie selbst zur Prüfung vorgelegt und betont, dass Kant diese Stelle in seiner Handschrift nicht abgeändert und nichts dabei notiert, folglich gebilligt habe. 

Die Lebensansichten und Einsichten einer einfachen Frau aus dem Volke wären damit durch die Vermittlung ihres großen Sohnes grundlegender Bestandteil der bedeutendsten Philosophie der Neuzeit geworden. Diese Elemente der Lehre Kants müssten demnach auch ungelehrten Menschen verständlich sein. Kant selbst scheint es so zu sehen, wenn er schreibt: „Aber verlangt ihr denn: dass ein Erkenntnis, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen und euch nur von Philosophen entdeckt werden solle?“ Und er fährt fort:“… dass … die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur es nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen“ (Transzendentale Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft, B 859). 

Man darf  Kant jedoch nicht so verstehen, als berufe er sich auf den gemeinen Menschenverstand als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnisse. Er warnt im Gegenteil ausdrücklich davor, so zu verfahren, z. B. im Vorwort zu den Prolegomena: „In der Tat ist’s eine große Gabe des Himmels, einen geraden (oder, wie man es neuerlich benannt hat, schlichten) Menschenverstand zu besitzen. Aber man muss ihn durch Taten beweisen, durch das Überlegte und Vernünftige, was man denkt und sagt, nicht aber dadurch, dass, wenn man nichts Kluges zu seiner Rechtfertigung vorzubringen weiß, man sich auf ihn, als ein Orakel beruft.“

Kant hat also nicht Volksweisheiten gesammelt und zusammengefasst. Er hat in mühevoller Gedankenarbeit nachgewiesen, dass Raum und Zeit nur Formen der sinnlichen Anschauung, also nur Bedingungen der Existenz der Dinge als Erscheinungen und dass uns allen – Gelehrten und Ungelehrten – die  Dinge an sich gar nicht bekannt seien, und er hat das Zusammenbestehen der Freiheit mit der Notwendigkeit gelehrt. Die Frage ist, wie diese Lehre Kants zu den Menschen gelangen kann, für die sie bestimmt ist, d. h. zu allen Menschen, die denken können.

Zu Kants Lebzeiten war die Antwort einfach: Kant war über vierzig Jahre lang Lehrer der Weltweisheit an der Universität zu Königsberg. Er wirkte durch seine Vorlesungen, an denen Studenten aller Fachrichtungen und ebenso Geschäftsleute, Offiziere und andere teilnahmen, durch  seine Bücher und durch sein Auftreten in der Gesellschaft Königsbergs. Über vierzig Jahre lang wurden in Preußen Männer als Beamte, Pfarrer, Juristen und Universitätsdozenten angestellt, die von ihm unterrichtet worden waren. Unzählige mehr lernten Kants Lehren durch seine Schüler kennen, wurden Schüler seiner Schüler und hatten selbst wieder Schüler, denen sie die Lehren Kants weitergaben.

Über Kants Wirken in der Königsberger Gesellschaft schreibt Jachmann: „Hier formte er die originellen Ideen seiner tiefsinnigen Philosophie in eine fassliche Lebensweisheit um und ward dadurch in dem engern Kreise des geselligen Umganges noch lehrreicher als selbst durch seine Schriften und öffentliche Vorlesungen. Er, der als kritischer Philosoph nur wenigen Geweihten zugänglich war, er versammelte als Philosoph des Lebens Menschen aller Art um sich und ward allen interessant und nützlich. Wer unsern Kant bloß aus seinen Schriften und aus seinen Vorlesungen kennt, der kennt ihn nur zur Hälfte; in der Gesellschaft zeigte er sich als den vollendeten Weltweisen.“

Kant selbst verstand es also, seine Ideen auf verständliche Weise auszudrücken.  Seine Schriften lasen aber auch damals schon nur Wenige. Ein Besucher Königsberg schrieb im Jahre 1798 über Kant: „Er ist hier allgemein geschätzt und geliebt, nur weiß der wenigste Teil seine literarischen Verdienste zu erkennen, und man ehrt und liebt also nur den Menschen in ihm.“ Über 200 Jahre später, in ihrem Leitartikel zum 200. Todestag Kants am 12. Februar 2004, drückte sich die Kaliningradskaja Prawda ganz ähnlich aus: „Die Mehrheit von uns hat die Werke Kants nicht gelesen und wird sie nicht lesen. Das alles ist weit entfernt vom täglichen Leben. Aber dabei ist Kant – wiederum für die Mehrheit – fast ein Verwandter. Seit einiger Zeit erhöht es das Ansehen, sein Landsmann zu sein.“

Bleibt es also dabei, dass die Lehren Kants den meisten Menschen nichts bedeuten, weil sie seine Werke nicht lesen können? Ist es unmöglich, die Philosophie aus den akademischen Fesseln zu befreien und die Zugänglichkeit der Philosophie für jedermann anzuerkennen, wie Karl Jaspers es fordert?  Oder ist es möglich, die Lehren Kants so weiterzugeben, dass die Menschen sie verstehen?

Die Antwort auf diese Frage kann nur lauten: Es ist möglich, wenn man Lehrer hat, Lehrer nach dem Vorbilde Kants. Kant  hat selbst bewusst Lehrer ausgebildet und dazu im Vorwort zu den Prolegomena gesagt: „ Diese  Prolegomena sind nicht zum Gebrauch für Lehrlinge, sondern für künftige Lehrer .     Kant spricht von „dem Ideal des  P h i l o s o p h e n“, der „nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft“ sei, ein „Lehrer im Ideal“, der „selbst doch nirgend, die Idee aber seiner Gesetzgebung allenthalben in jeder Menschenvernunft angetroffen wird“ (Transzendentale Methodenlehre, A 839).

Das Ideal des Philosophen ist also von uns nicht weit entfernt und unerreichbar.  Der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft steht nicht hoch über ihr, sondern ist in jeder Menschenvernunft als Idee vorhanden. Der Lehrer im Ideal ist nicht wesensverschieden von dem Schüler, wenn er dem Schüler auch voraus ist. 

Wenn wir uns mit Kant vergleichen, ist jeder von uns nur ein kleines Licht. Dieses kleine Licht ist jedoch Licht vom selben Lichte, das von Kant ausstrahlt. Wir dürfen uns deshalb nicht von dem Gedanken entmutigen lassen, dass wir das Ideal des Weisen, das er verkörpert, vielleicht niemals erreichen können.  Im Gegenteil: Das Ideal der Weisheit, das Kant verkörpert, ist als Anlage in jedem von uns vorhanden.

Um diese Anlage wachzurufen, fordert Kant  Wahrhaftigkeit, „eine  R e v o l u t i o n in der Gesinnung im Menschen“. Wer ihm dabei folgt, muss mit der Umwandlung seiner eigenen Denkungsart beginnen. Entscheidend ist nicht die äußere Bekundung, sondern allein die innere Erfahrung. . Kant lehrt , „dass die moralische Bildung des Menschen nicht von einer Besserung der Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart, und von Gründung eines Charakters anfangen müsse“ (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, A 52), „und da diesen zu haben das Minimum ist, was man von einem vernünftigen Menschen fordern kann, zugleich aber auch das Maximum des inneren Werts (der Menschenwürde): so muss, ein Mann von Grundsätzen zu sein (einen bestimmten Charakter zu haben), der gemeinsten Menschenvernunft möglich und dadurch dem größten Talent der Würde nach überlegen sein“ (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 272). Einen Ungelehrten, der einen Charakter hat, schätzt Kant höher als einen Gelehrten, der keinen Charakter hat.

Für Gelehrte wie für Ungelehrte gilt also dasselbe: Es kommt darauf an, was man aus sich selbst macht; es kommt auf den Charakter an, den man sich erwirbt.  Die Frage ist, was Lehrer zu tun haben, die diese Lehre den Menschen vermitteln wollen.  Zu diesem Zweck empfiehlt Kant, die Biographien alter und neuer Zeiten zu durchsuchen, um Belege zu den moralischen Pflichten bei der Hand zu haben (Kritik der praktischen Vernunft, A 275) und unsere Anlage zum Guten  dadurch zu kultivieren, dass man das Beispiel von guten Menschen anführe (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, A 52).

Als Beispiel für einen guten Menschen möchte ich anführen, was Maxim Gorki in seiner Autobiographie „Meine Kindheit“ von seiner Großmutter erzählt, Akulina Iwanowna Peschkowa. „Bevor sie kam,“ schreibt er, „hatte ich gleichsam im Dunkel verborgen geschlafen, ihr Erscheinen jedoch weckte mich, führte mich ans Licht, …  Ihre selbstlose Liebe zur Welt machte mich reich, verlieh mir Kraft und Festigkeit für die Kämpfe des Lebens.“  Gorki erzählt auch von dem Gott der Großmutter: „Ihr Gott war den ganzen Tag bei ihr, sie sprach sogar mit den Tieren von ihm. …  Er stand allem Lebenden auf Erden gleich nahe, war gegen alles und alle gleich gut. … Der Gott der Großmutter war mir verständlich, und ich fürchtete mich nicht vor ihm; ich empfand es als beschämend, vor ihm zu lügen, und habe die Großmutter auch nie belogen. Es war einfach unmöglich, diesem guten Gott etwas zu verbergen, und ich empfand auch gar nicht den Wunsch,  es zu tun.“

Es wird Ihnen aufgefallen sein, dass Gorki von seiner Großmutter fast mit den gleichen Worten spricht wie Kant von seiner Mutter. Die protestantisch-pietistische Anna Regina Kant und die russisch-orthodoxe Akulina Iwanowna Peschkowa unterscheiden sich zwar in den äußerlichen Formen ihres religiösen Bekenntnisses, stimmen aber im Wesentlichen überein. Es ist also richtig, was Kant in einer Fußnote seines Traktats Zum ewigen Frieden schreibt, dass es wohl verschiedene Glaubensarten geben könne, aber nur eine einzige, für alle Menschen und in allen Zeiten gültige Religion. Jede dieser beiden ungelehrten Frauen hatte einen Charakter, wie Kant ihn fordert. Zu allen Zeiten und in allen Ländern gibt es gute Menschen wie diese beiden Frauen. Vielleicht sind Sie in Ihrem Leben selbst schon einmal einem solchen guten Menschen begegnet. Solange es solche Menschen gibt, geht die Welt nicht unter.  

In seinen Werken beschäftigt sich Kant immer wieder mit dem Verhältnis zwischen der Philosophie und der „praktischen gemeinen Vernunft“, zwischen Gelehrten und Ungelehrten. In der Logik von Jäsche heißt es dazu (Einleitung, IX):

„Es ist überhaupt merkwürdig, daß der Unwissende ein Vorurtheil für die Gelehrsamkeit hat und der Gelehrte dagegen wiederum ein Vorurtheil für den gemeinen Verstand.

Wenn dem Gelehrten, nachdem er den Kreis der Wissenschaften schon ziemlich durchgelaufen ist, alle seine Bemühungen nicht die gehörige Genugthuung verschaffen: so bekommt er zuletzt ein Mißtrauen gegen die Gelehrsamkeit, insbesondere in Ansehung solcher Speculationen, wo die Begriffe nicht sinnlich gemacht werden können, und deren Fundamente schwankend sind, wie z. B. in der Metaphysik. Da er aber doch glaubt, der Schlüssel zur Gewißheit über gewisse Gegenstände müsse irgendwo zu finden sein: so sucht er ihn nun beim gemeinen Verstande, nachdem er ihn so lange vergebens auf dem Wege des wissenschaftlichen Nachforschens gesucht hatte.

Allein diese Hoffnung ist sehr trüglich, denn wenn das cultivierte Vernunftvermögen in Absicht auf die Erkenntniß gewisser Dinge nichts ausrichten kann, so wird es das uncultivirte sicherlich eben so wenig. In der Metaphysik ist die Berufung auf die Aussprüche des gemeinen Verstandes überall ganz unzulässig, weil hier kein Fall in concreto kann dargestellt werden. Mit der Moral hat es aber freilich eine andere Bewandniß. Nicht nur können in der Moral alle Regeln in concreto gegeben werden, sondern die praktische Vernunft offenbart sich auch überhaupt klärer und richtiger durch das Organ des gemeinen als durch das des speculativen Verstandesgebrauches. Daher der gemeine Verstand über Sachen der Sittlichkeit und Pflicht oft richtiger urtheilt als der speculative.“

Es ist ungewiss, ob Maxim Gorki diese Ausführungen Kants gelesen hat. Umso erstaunlich ist es, dass er aus seiner Lebenserfahrung heraus genau zu demselben Ergebnis kommt wie Kant. Gorki schreibt:

„Jeder Mensch, der mit dem Leben gekämpft hat, von ihm besiegt wurde und in der erbarmungslosen Gefangenschaft seines Schmutzes leidet, ist mehr Philosoph als selbst Schopenhauer, weil ein abstrakter Gedanke niemals in einer so genauen und bildhaften Form zum Ausdruck kommt wie ein Gedanke, der unmittelbar durch das Leiden aus dem Menschen  herausgepresst worden ist“ („Konowalow“, II, 31).     

Am Ende des Ersten Abschnitts der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten („Übergang  von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen“) erklärt Kant, die gemeine Menschenvernunft werde „aus praktischen Gründen angetrieben, … einen Schritt ins Feld einer  p r a k t i s c h e n  P h i l o s o p h i e  zu tun, um daselbst, wegen der Quelle ihres Prinzips und richtigen Bestimmung desselben … Erkundigung und deutliche Anweisung zu bekommen“ (BA 24, 25). Die Ungelehrten und die Gelehrten brauchen also einander: Die Ungelehrten, damit sie nicht auf Irrwege geraten, und die Gelehrten, um ihre Begriffe am wirklichen Leben auszurichten. Diese Erkenntnis Kants ist von großer praktischer Bedeutung nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Geschichte und Politik. Am Beispiel der Kriege und der Leiden, die unsere Völker im 20. Jahrhundert erlebt haben, muss man jedem Menschen klarmachen können, dass die Menschen sich im moralischen Sinne nicht danach unterscheiden, ob sie Russen oder Deutsche, Gelehrte oder Ungelehrte sind. Sie unterscheiden sich danach, ob sie –  auch unter den schrecklichsten Umständen – anständige Menschen sind oder nicht. Die Aufgabe der philosophischen Wissenschaft ist es, diese Wahrheit zu begründen und so zu erklären, dass jeder Mensch danach handeln kann. 

© 2004 Gerfried Horst

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