Das Dorf Judtschen unweit von Gumbinnen war einst sehr geprägt von französisch sprechenden Zuwanderern. Dazu gehörte auch die Familie Loyal. Ein Mitglied dieser Familie, Dr. Dierk Loyal, hat die russischen Verantwortlichen intensiv beim Wiederaufbau des Pfarrhauses beraten und ist dem Dorf und dem Museum weiter sehr verbunden. Er hat nachfolgenden Bericht geschrieben:
Das 14. Familientreffen der Hugenotten-Familie Loyal fand in diesem Jahr an Pfingsten in der alten Heimat der Vorfahren im ehemaligen Ostpreußen statt. Die Familie stammte ursprünglich aus Landonvillers / Courcelles-Chaussy, bei Metz. Von dort aus flüchtete 1687 der Vorfahre Abraham Loyal (1660-1730) mit seiner Ehefrau Susanne Mathieu (1662-1736) und dem Sohn Louis (1687-1740) über Mannheim, Frankfurt a.M., Brandenburg in die Uckermark. Die Familie war dort nicht glücklich und so kam es, dass sie mit weiteren uckermärkischen Hugenotten-Familien 1712 nach Ostpreußen zogen, um sich dort der neu gegründeten Schweizer Kolonie anzuschließen. Das Amt Insterburg war durch die große Pest von 1710 fast vollständig entvölkert und bot daher genügend Raum für die neu gegründete Kolonie.[1] An der Pest in Ostpreußen verstarben schätzungsweise 230.000 Menschen (ca. 38,3 % der ostpreußischen Gesamtbevölkerung).[2]
Burggraf Alexander zu Dohna-Schlobitten (1661-1728) übernahm als Vorsitzender der ostpreußischen Provinzialregierung im Juni 1712 die Leitung der Kommission zur Wiederbesiedlung Ostpreußens nach der großen Pest.[3] Bereits am 14. August 1713 wurde in dem Ort Judtschen die „Reformiert Evangelische Französisch Schweizerische Gemeinde“ gegründet. Der erste Gottesdienst durch den ersten Pfarrer, David Clarenc (1680-1749), fand am 14.1.1714 in einem alten Haus im Dorf Judtschen statt, in dem der Pfarrer wohnte, dass dann später auch als Pfarrhaus (mit verschiedenen späteren Umbauten) bis 1944 diente. Direkt neben diesem Haus wurde auf einem großen freien Platz der Kirchenneubau angelegt. Die Einweihung fand feierlich am 27. April 1727 statt.[4]
Heute stehen von dem ehemaligen Dorf nur noch wenige alte Häuser. Die letzten Reste der alten Französisch-reformierten Kirche, die den zweiten Weltkrieg unbeschädigt überstand, wurde um 1980 zum Straßenbau abgetragen. Lediglich das alte Pfarrhaus überdauerte bis in unsere Tage, hier allerdings lange Jahre als leer stehende Ruine. In diesem Haus lebte drei Jahre der große Philosoph Immanuel Kant als Hauslehrer bei der Pastorenfamilie Andersch. Dieses historische Ereignis verhinderte letztlich den Untergang des Gebäudes.
So kam es, dass am 1. August 2016 der russische Präsident Wladimir Putin 46 Millionen Rubel aus seinem Reservefonds für die Gebäuderenovierung und Errichtung eines Museums in Wesselowka (Judtschen) zur Verfügung stellte, und am 16. August 2018 empfing das „Kant-Haus“ zu seiner Eröffnung seine ersten Besucher. Das Museum in Wesselowka wird als Zweigstelle des Dom-Museums von Kaliningrad betreut.
Familie Loyal betrieb seit 1712 eine Kahn-Fähre zwischen den Orten Szemkuhnen und Judtschen. So war es der Vorfahre Fährmann Samuel Loyal (1693-1765) der Kant über den Fluss fuhr. Er war auch Kirchenältester der Gemeinde und begegnete öfters dem Philosophen, nicht nur bei Flussüberquerungen, sondern auch bei Festen im Haus von Pastor Andersch und bei Sonntagsgottesdiensten.
Der Kahn der Familie Loyal wurde auch zum Fischfang verwendet und die Familie besaß viele Jahrhunderte die Fischereirechte. Wenn man in der Familie Andersch deshalb Kant Fisch zum Mittagessen servierte, war dies ein Fang aus dem Fluss Angrapa (Angerapp), und wurde von der Familie Loyal gefangen und weitergereicht. Aus Begegnungen im Pfarrhaus und auf der Angerapp entstand zwischen Kant und der Familie Loyal eine Freundschaft. In einer im Besitz der Familie Loyal aus Judtschen befindlichen alten Bibel, hatte Kant persönlich mit einer Widmung seinen Namen eingetragen. Diese Kostbarkeit wurde später von den Nachfahren mit Stolz den Gästen des Hauses gezeigt, bis das Buch in den Wirren des 1. Weltkrieges verloren ging.[5]
Die Idee, mit Mitgliedern der Großfamilie Loyal die weite Reise nach Kanthausen zu machen, entstand ganz spontan vor zwei Jahren beim letzten Familientreffen in Leipzig. Bei einer Vorbesprechung zur Reise fassten Dr. Dierk und Manfred Loyal den Beschluss, mit finanzieller Unterstützung der „Freunde Kants und Königsbergs“ dem Kant-Museum in Wesselowka einen Nachbau eines Angerapp-Kahns, mit dem Kant fuhr zu spenden.
Aber wie baut man einen solchen Kahn? Zum Glück ist Manfred Loyal Tischlermeister. Der gebürtige Ostpreuße war mit 9 Jahren der letzte „Fährmann“ zwischen Szemkuhnen und Judtschen auf der Angerapp. Er besitzt Bilder und selbst angefertigte Zeichnungen des Bootes, auf dem sie damals fuhren. Und bei alledem wollte er unbedingt noch einmal auf dem Fluss seiner Kindheit staken. Das sollte nicht mit irgendeinem Kahn geschehen, sondern mit einem historischen. Einem, wie sie einst auf dem Fluss Angerapp fuhren. Und genau auf einem solchen Boot wurde der spätere große Philosoph von Ufer zu Ufer gebracht. Zur Verwirklichung dieses Projekts trug besonders Dr. Dierk Loyal bei, der nicht nur Vorstandsmitglied der Deutschen Hugenotten-Gesellschaft, sondern auch Mitglied der internationalen Gesellschaft „Freunde Kants und Königsbergs“, ist.[6]
Der Kahn wurde in der Stadt Wuppertal gebaut, in der Manfred Loyal (84 J.) lebt. Aus einer Idee wurde Wirklichkeit und so kam es, dass am 8. Juni um 15 Uhr in Wesselowka der Kahn nicht nur feierlich dem Museum übergeben, sondern auch symbolisch zu Wasser gelassen wurde.
Am 8. Juni 2019 besuchten die Nachkommen der Hugenotte-Familie Loyal das Dorf Wesselowka (Judtschen) und übergaben dort das außergewöhnliche Exponat, den „Kahn für Kant“, feierlich als Geschenk an Marina Yadova, die stellvertretende Direktorin des Doms und Leiterin des Museums.
Nach 75 Jahren wurde für einen Nachmittag der alte Fährbetrieb vom letzten Angerapp-Fährmann Manfred Loyal wieder aufgenommen. Unter großem Beifall der Familienmitglieder und den russischen Freunden wurde der Kahn ins Wasser der Angrapa gelassen. Einige Familienmitglieder probierten selbst die Kahnfahrt aus. Anschließend wurde der Kahn wieder zum „Kant-Haus“ gebracht. Der Kahn steht nicht nur für die Verbindung von Ufern, sondern steht auch symbolisch für die Freundschaft und Verbundenheit zwischen Deutschland und Russland.
Am 9. Juni 2019 kam die Familiendelegation erneut nach Wesselowka. Christel Didt (92 J.) und Manfred Loyal (84 J.) liefen die Dorfstraße und den Fluss Angerapp entlang und erzählten den jüngeren Familienmitgliedern die Vorkriegsgeschichte des Dorfes und ihrer Bewohner.
Das neue Museum in Wesselowka selbst steht noch am Anfang seines Aufbaus. „Wir schreiben noch an seinem Konzept“, sagte Marina Yadova, „es soll bis zum Herbst fertig sein.“ Selbstverständlich wird das Museum in Wesselowka von Kant als Lehrer erzählen. Es ist jedoch notwendig, auch eine Vorstellung der Familie zu geben, in der er lebte, und von dem Ort, an dem der zukünftige Professor die ersten Schritte auf seinem pädagogischen Weg unternahm. Es soll also auch eine Abteilung geben, die der Geschichte des Dorfes gewidmet ist. Familie Loyal ist bereit, hierzu das Museum weiterhin tatkräftig zu unterstützen.
Anmerkungen:
[1] A. Stukat, Schweizer Kolonie in Ostpreußen, in: Zeitschrift für schweizerische Geschichte = Revue d’histoire suisse, Bd. 11 (1931) Heft 3, S. 372 – 377.
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fe_Pest_von_1708_bis_1714 (Stand 19.7.19)
[3] https://www.ostpreussen.net/ostpreussen/orte.php?bericht=779 (Stand 19.7.19)
[4] Dierk Loyal, Zum Gedächtnis der von 300 Jahren gegründeten Französischen-reformierten Gemeinde Judtschen (Kanthausen) in Ostpreußen, in: Hugenotten, 75. Jg. Nr. 4/2012, S. 143ff.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kirche_Judtschen (Stand 19.7.2019).
[5] Dierk Loyal, Immanuel Kant und die Familie Loyal, Interne-Artikel vom 2.4.2008, http://www.familie-loyal.de/?q=node/15
[6] Ein besonders herzlicher Dank gilt an dieser Stelle Herrn Gerfried Horst (Vorsitzender des Vereins “Freunde Kants und Königsberg e.V.) und Frau Svetlana Kolbaneva (Vorstandsmitglied im gleichen Verein). Beide unterstützten und begleiteten tatkräftig das Projekt. Die hierzu erforderlichen Korrespondenzen, Zollabwicklung, Erstellung eines Schenkungsvertrages und Verhandlungen mit der verantwortlichen Museumsleitung in russischer Sprache, führten letztlich zum Gelingen des Projektes.
Der Artikel erschien bereits in ähnlicher Form in der Zeitschrift der Deutschen Hugenotten-Gesellschaft e.V., „Hugenotten“, 83. Jg. Nr. 3/2019, S. 11ff.
Quelle: Ostpreußen.net, Dr. Dierk Loyal: Ufer verbinden – ein Fährkahn für Immanuel Kant als Beitrag zur deutsch-russischen Freundschaft. URL: https://ostpreussen.net/index.php?log=1&mod=ctext_show&ctext_id=4087&cl=lang
© 2019 Dr. Dierk Loyal