Geschichte

Preußen war nicht nur Deutschland

Geschichte ist mehr als Zeitgeschichte. Sie erstreckt sich auf viele Generationen und hat ein langes Gedächtnis. So umfasst auch die Geschichte Preußens nicht nur die Zeitspanne des 20. Jahrhunderts, in dessen Verlauf der alte Hohenzollernstaat zunächst vom Deutschen Reich entmachtet und dann von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs aufgelöst worden ist. Preußen hat viele Jahrhunderte bestanden.

In den letzten Jahrzehnten hat es lebhafte Diskussionen über die Licht- und Schattenseiten des preußischen Staates gegeben. Nicht nur in Deutschland, auch in anderen europäischen Ländern ist darüber gestritten worden, welchen Platz dieser vielgesichtige Staat in der Geschichte innehat. Seit dem sogenannten Preußenjahr 1981, in dem es bedeutende Ausstellungen und Publikationen zur preußischen Geschichte sowohl in der östlichen als auch in der westlichen Hälfte Deutschlands gab, ist ein neues Interesse für diesen Teil Europas erwacht. Sebastian Haffners “Preußen ohne Legende” machte Schlagzeilen.

In jüngster Zeit erregte ein viel beachtetes Preußen-Werk des australischen Historikers Christopher Clark mit der These Aufmerksamkeit, dass Preußen weniger an sich selbst als an Deutschland zugrunde gegangen sei. Er betont, dass “Preußen ein europäischer Staat war, lange bevor es ein deutscher wurde.” Und er fügt hinzu, dass “Deutschland… nicht die Erfüllung Preußens, sondern sein Verderben” war. (Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, deutsche Übersetzung München 2007, S. 13).

Es wird also Zeit, nach dem europäischen Charakter Preußens zu fragen. Nicht weil heute Europa ein herausragendes Thema der politischen Debatte ist, sondern weil es seit jeher die geographische und kulturelle Grundlage unserer Existenz auf diesem Kontinent ist. Es gibt keinen Staat zwischen Russland und dem Atlantischen Ozean, der sich ohne Bezug zu Europa und seiner Geschichte definieren ließe.

Was also ist das Europäische an Preußen? Zunächst ein ganz einfacher Sachverhalt: die preußischen Untertanen und später Staatsbürger stammten in erheblichem Maße aus verschiedenen Regionen Europas; sie waren nicht nur Deutsche. Hier im alten Ostpreußen lebten Litauer und den Polen verwandte Masuren neben Nachkommen niederländischer, hugenottisch-französischer und Salzburger Einwanderer in einer deutsch geprägten Kulturwelt in der Nachbarschaft des großen russischen Reiches mit seinen baltischen Provinzen. Sie dachten nicht nur an Berlin sondern auch an Warschau, Stockholm, Riga und St. Petersburg und empfanden die Ostsee als ihr Meer sowie die Katalanen und Provenzalen das Mittelmeer als das Ihre.

Sodann gehörte Preußen vor 1871 nicht mit allen seinen Gebieten zum Deutschen Bund und vor 1806 zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Insbesondere Ostpreußen lag seit jeher außerhalb dieser Grenzen und behielt bis ins 20. Jahrhundert hinein Züge ausgeprägter Eigenständigkeit. Königsberg wäre nie zum Ort der Königskrönung der brandenburgischen Kurfürsten gewählt worden, wenn es eine gewöhnliche “reichsdeutsche” Stadt wie Berlin oder Potsdam gewesen wäre. Auch der sächsische Kurfürst holte sich seine Königskrone außerhalb des Reichs in Warschau und nicht in Dresden.

Später war sich Bismarck sehr wohl der Nützlichkeit dieser europäischen Grundlagen preußischer Machtpolitik bewusst. In einem Brief aus dem Jahre 1859 sah er im Bezug auf Europa eine Möglichkeit, sich von der Welt der deutschen Mittel-und Kleinstaaten abzuheben und sich “den Stricken der Bundesphilister zu entwinden”. Hier schien ihm eine Plattform für eine höhere Stufe von Politik gegeben zu sein, ein “Entréebillet” zum Club der großen Mächte. Schließlich hatte Preußen seinen Großmachtstatus im Wiener Kongress 1815 aufgrund seiner nicht zum Deutschen Bund gehörenden Territorien erhalten.

Für Bismarck unterschied sich also europäische von deutscher Politik, wie sich große von kleiner Politik unterscheidet. In der Kontroverse um die Schleswig-Holstein-Frage 1863 gab er diesem Verständnis in einem Brief an den Petersburger Gesandten drastischen Ausdruck: “Die Frage ist, ob wir eine Großmacht sind oder ein deutscher Bundesstaat, und ob wir, der ersten Eigenschaft entsprechend, monarchisch oder, wie es in der zweiten Eigenschaft… zulässig ist, durch Professoren, Kreisrichter und kleinstädtische Schwätzer zu regieren sind.”

Europa hatte für Preußen also einen höheren Rang. Was nur deutsch war, im engeren Bannkreis Deutschlands blieb, konnte den Geltungsdrang Preußens nicht befriedigen. Europäische Politik begründete hingegen ein höheres Maß an Entscheidungsfreiheit, eröffnete größere Handlungsmöglichkeiten. Mit der europäischen Karte in der Hand konnte Preußen den Staaten des deutschen Bundes auch im Bedarfsfalle zusetzen.

Aber nicht nur politisch, auch konfessionell hatte Preußen eine europäische Farbe. Hegel sah dies darin begründet, dass Friedrich der Große “Preußen unter die großen Staatsmächte Europas als protestantische Macht eingeführt” habe. Die konfessionelle Prägung sei trotz aller Öffnung für den Geist der Aufklärung, wie er für Kant bestimmend war, nicht gleichgültig gewesen.

Freilich reichte der allgemeine Bezug auf den Protestantismus nicht aus, um dem Hohenzollernstaat eine europäische Dimension zu geben. Denn protestantisch war auch die Mehrzahl der deutschen Kleinstaaten, die sich durch ihr provinzielles lutherisches Landeskirchentum gegenüber der großen europäischen Welt eher absonderten. Was Preußen einen europäischen Zuschnitt gab, war vielmehr eine besondere Ausprägung des Protestantismus, die ihrem Ansatz nach über die Grenzen Deutschlands hinauswies: der Genfer Calvinismus.

Mit ihrer Hinwendung zum reformierten Bekenntnis Anfang des 17. Jahrhunderts hatten die Hohenzollern nicht nur einen kirchengeschichtlich bedeutsamen Schritt vollzogen, insofern als sie die dem gegenreformatorischen Katholizismus aktiver entgegen wirkende Form des Protestantismus stärkten; mit ihrer konfessionellen Neuorientierung hatten sie auch eine folgenreiche politische Weichenstellung vorgenommen, da sie mit dem Calvinismus westeuropäischem Geist die Türen öffneten und ihren Staat aus der provinziellen Enge des deutschen Luthertums herausführten. Der Hohenzollernstaat rückte näher an Holland und die Welt der französischen Hugenotten heran.

Mit der Hinwendung zum Calvinismus wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass nach dem Dreißigjährigen Krieg eine wachsende Zahl von Glaubensflüchtlingen aus dem Europa der Gegenreformation in die dünn besiedelten Gebiete zwischen Spree und Memel einströmte. Auch nach Ostpreußen. Damit gerieten die Lutheraner nicht an den Rand der ständischen Gesellschaft, aber die Calvinisten bildeten doch überall spürbare Gegengewichte und trugen dazu bei, dass sich das Luthertum nicht so weltvergessen wie in Sachsen oder Württemberg in sich selbst verspann. Das Land wurde aufgeschlossener für den Geist der Aufklärung.

Dieser Geist eines weltoffenen, unkonfessionalistischen Denkens fand einen besonderen Ort hier in Königsberg, in der Stadt des bedeutendsten Philosophen der Aufklärung, Immanuel Kants. Auch wenn er auf Widerstände stieß und seine wichtigsten Werke außerhalb Preußens, nämlich in Riga veröffentlichte, so war er doch untrennbar mit diesem Land verbunden und zugleich eine Verkörperung des europäischen Geistes, der die Aufklärung prägte. Kants Werk hat Preußen überdauert.

Was aber blieb von Europa in der Epoche des Nationalismus, in dessen Sog auch der preußische Staat geriet und der ihm schließlich zum Verhängnis wurde? Es gehört zu den tragischen Begebenheiten der Geschichte, dass ausgerechnet dieser über die alten deutschen Reichsgrenzen hinausreichende Staat zu einem besonders ausgeprägten Hort nationalistischen Denkens wurde und die Zugehörigkeit zur Völkerfamilie Europas aus dem Blick verlor.

Dazu trugen mehrere folgenreiche historische Vorgänge bei, die das ganze 19. Jahrhundert bis weit in das 20. hinein überschatteten. Zum einen standen sich Preußen und Deutschland ständig im Wege und ließen sich nicht zur Ausbildung einer modernen demokratischen Staatlichkeit kommen. Preußen drängte die anderen deutschen Staaten auf den Weg der Verpreußung, und Deutschland trieb Preußen auf den Weg der Germanisierung aller seiner nichtdeutschen Staatsbürger. Das preußisch-deutsche Reich schwächte in beiden Richtungen das Bürgerbewusstsein.

Zum andern belasteten die Teilungen Polens Preußen in besonderer Weise. Zwar waren das zarische Russland und die Habsburger Monarchie an ihnen quantitativ noch mehr beteiligt, aber sie brachten in ihren Vielvölkerstaaten bessere Voraussetzungen für eine Aufnahme neuer Nationalitäten mit. Preußen hingegen sah seinen inneren Zusammenhalt bedroht, weil es als Führungsmacht des Deutschen Reichs zugleich auf den deutschen Charakter seines Staatswesens bedacht sein und auf die Interessen der östlichen Teilungsmächte Rücksicht nehmen musste. Beides war für die Förderung eines europäischen Bewusstseins nicht glücklich.

In Ostpreußen verstärkte sich diese Problematik noch zusätzlich. Einerseits brachte es die exponierte Lage dieser Provinz mit sich, dass deren deutscher Charakter mehr als in den mittleren und westlichen Gebieten Preußens betont wurde. Andererseits waren die Folgen der Teilungen Polens hier besonders spürbar, weil nun Russland bis an die östliche und südliche Grenze der Provinz heranreichte und somit jeden deutsch-polnischen Nachbarschaftsdialog unterband. An diesen nationalen, zugleich Rückbindungs- und Abgrenzungszwängen änderte sich auch nach der Wiederherstellung Polens nach dem Ersten Weltkrieg nichts, als Ostpreußen nun auch nach Westen hin vom preußischen Gesamtstaat und dem Deutschen Reich abgetrennt war, diesmal durch den sogenannten polnischen “Korridor”. Wenn man in der Zwischenkriegszeit von Königsberg nach Berlin reiste, fuhr man ins “Reich”.

Europa wurde demgegenüber erst in den Jahren des national-sozialistischen “Dritten Reichs” wiederentdeckt, und zwar von den Kreisen des Widerstands. Gerade die in den östlichen Provinzen Preußens, allen voran in Ostpreußen und Schlesien, wirkenden Oppositionskräfte besannen sich auf die alten Wertvorstellungen der europäischen Geschichte und versuchten, diese zur Grundlage einer humanen Nachkriegsordnung zu machen. Der Begriff Europa stand für Freiheit und Menschenwürde.

In einem Grundsatzpapier, das der “Kreisauer Kreis” in Schlesien im August 1943 verfasste, wurde für den “Neuaufbau der europäischen Völkergemeinschaft” gefordert, dass vor allem das “zertretene Recht… wieder aufgerichtet und zur Herrschaft über alle Ordnungen des menschlichen Lebens gebracht” werde. Sodann dürfe die “Verantwortung und Treue, die jeder Einzelne seinem nationalen Ursprung und seiner Sprache schuldet, … nicht zur Herabwürdigung, Verfolgung oder Unterdrückung fremden Volkstums missbraucht werden.” Das entsprach alten europäischen Rechtsvorstellungen.

Heute, 63 Jahre nach dem Ende des zerstörerischen, menschenverachtenden Zweiten Weltkriegs, ist eine neue Ordnung in Europa entstanden, die uns die Chance zu einem friedvollen menschlichen Zusammenleben gibt. Dass wir uns hier im nunmehr zu Russland gehörenden Teil des alten Ostpreußens im Geiste Kants zusammenfinden können, ist ein Zeichen der Hoffnung und der Zuversicht. Russen und Deutsche denken gemeinsam über die Geschichte Preußens nach, über die Geschichte des Staates, der wie kein zweiter seinen Aufstieg der generationenlangen Verbundenheit zwischen ihren Herrscherhäusern verdankt. Sie tun dies aber heute nicht wie früher auf Kosten anderer Nachbarvölker, die einen eigenen Platz in Europa haben. Ostpreußen ist ein Symbol dafür, denn es gehört nun zur einen Hälfte zu Russland und zur anderen zu Polen – und es bietet in beiden Teilen Gastfreundschaft für Deutsche, die ihre geschichtliche Verbundenheit mit diesem Land nicht zu verleugnen brauchen. Danke für Ihre Gastfreundschaft.

© Prof. Dr. Rudolf von Thadden

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