Geschichte

Kant, Königsberg und die Freunde Kants

Meine Damen und Herren, liebe Freunde Kants!

Dies ist hier ein deutsch-russisches Treffen; deshalb gestatten Sie mir bitte, auf deutsch und auf russisch zu Ihnen zu sprechen. 

Wir – Russen und Deutsche – sind in dieser Stadt zusammengekommen, um morgen den Geburtstag Immanuel Kants zu feiern. Kein Philosoph wird so sehr verehrt wie Kant. Das liegt sicherlich an der großen Bedeutung seiner Lehre. Jeder, der sich mit Philosophie beschäftigt, muss Kant lesen und versuchen, seine Gedanken zu verstehen und – wie Schopenhauer es empfiehlt – mit Kants Kopf zu denken, also – wie Kant es von seinen Schülern forderte – nicht Philosophie zu lernen, sondern philosophieren zu lernen.  

Kants Philosophie ist jedoch nur wenigen genauer bekannt. Sie allein kann nicht der Grund dafür sein, dass so viele Menschen Kant bis heute große Verehrung entgegenbringen. Den wahren Grund dafür nennt sein Schüler Reinhold Bernhard Jachmann in seiner im Todesjahr Kants 1804 erschienenen Kant-Biographie:

„War Kant groß und bewundernswürdig durch seinen Geist und durch seine Gelehrsamkeit, so ist er gewiß groß und achtungswert durch seinen Charakter und durch seine Handlungsweise. … Kant lebte wie er lehrte!“

Noch stärker als durch seine philosophischen Schriften, die nicht viele verstanden, wirkte Kant durch seine Persönlichkeit auf seine Mitmenschen. Sein erster Biograph Ludwig Ernst Borowski erwähnt sogar die – von ihm für „ungebührlich“ gehaltene – „von vielen wiederholte Vergleichung Kants mit Christus“. 

Was war das Besondere an Kants Lehre? Kant nannte sein neues Verfahren selbst eine „Revolution der Denkart“ und verglich es mit dem Gedanken des Kopernikus, der erkannte, dass nicht die Sonne aufgeht und wieder untergeht, wie es uns erscheint, sondern dass die Erde, von der aus wir die Sonne betrachten, sich um die Sonne dreht. Diese veränderte Methode der Denkart wandte Kant auf die Anschauung von Dingen allgemein an. Das nennen wir die „kopernikanische Wende“ in der Philosophie.   

Die Auswirkungen dieser „Revolution der Denkart“ sind unermesslich und können hier nicht einmal angedeutet werden. Das war jedoch nicht die einzige Revolution, deren Urheber Kant ist. Er hat den Menschen auch gezeigt, dass sie für sich selbst verantwortlich sind und dass sie die Möglichkeit haben, sich zu bessern. In seinem Werk „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ schrieb er:

„Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muss er   s i  c h  s e l b s t  machen, oder gemacht haben.“  

Dass jemand ein  m o r a l i s c h  guter (Gott wohlgefälliger) Mensch werde, so schreibt Kant weiter, „das kann nicht durch allmähliche R e f o r m , so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muss durch eine  R e v o l u t i o n  in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden; und er kann ein neuer Mensch, nur durch eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung … und Änderung des Herzens werden.“ 

Die von ihm gelehrte Revolution in der Gesinnung, den Übergang zur Heiligkeit, eine Art von Wiedergeburt hat Kant selbst vollzogen. Kant lebte wie er lehrte! Er hat seinen Mitbürgern durch sein Beispiel gezeigt, was ein Mensch in seinem Leben aus sich machen kann.  Auch in früheren Zeiten gab es Menschen, die in ihrem eigenen Inneren eine Revolution verwirklichten, eine Änderung des Herzens, und dadurch neue Menschen wurden, z. B. Franz von Assisi im 13. Jahrhundert in Italien oder Sergej von Radonesch im 14. Jahrhundert in Russland. Beide lebten ihren Zeitgenossen vor, dass es möglich ist, ein guter, ein Gott wohlgefälliger Mensch zu sein. Und beide, Franz von Assisi und Sergej von Radonesch, wurden schon zu ihren Lebzeiten von ihren Mitmenschen als Heilige betrachtet. 

Im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, im protestantischen Königsberg dachte man nicht an Heilige. Aber man verglich Kant mit Christus, seine Schüler vergötterten ihn, und alle seine Königsberger Mitbürger brachten ihm eine außerordentliche Verehrung entgegen. Deshalb läuteten die Glocken aller Kirchen Königsbergs, als sein Sarg durch die Straßen der Stadt getragen wurde, deshalb folgten viele Tausende seinem Sarge.  

Am  22. April 1803 hatten alle Freunde Kants in seinem Hause mit ihm seinen letzten Geburtstag gefeiert. William Motherby, der Sohn von Kants Freund Robert Motherby,  lud die 22 Teilnehmer dieser Geburtstagsfeier durch ein Rundschreiben „zu einem feierlichen Erinnerungsfeste seines Wertes als Mensch und Freund an seinem Geburtstage, Montag den 22. April“1805 ein. Diese 22 Freunde Kants beschlossen, in  Zukunft jedes Jahr zu Kants Geburtstag am 22. April zu einem Erinnerungsfest zusammenzukommen. Daraus entwickelte sich die „Gesellschaft der Freunde Kants», die in nie unterbrochener Tradition, durch Kooptation ergänzt, die Tischgesellschaft Kants in Königsberg fortsetzte. 

Die Gesellschaft hatte nie Statuten. Ihre einzige Aufgabe war es, die Erinnerung  an den Menschen Immanuel Kant in seiner Heimatstadt zu bewahren. Im Jahre 1814 schlug der Astronom Friedrich Wilhelm Bessel vor, denjenigen, der jeweils im nächsten Jahr vor dem Festessen die Rede halten sollte, durch eine Bohne zu bestimmen, die in dem als Nachtisch gereichten Kuchen versteckt wurde. So entstand die Tradition des „Bohnenkönigs“, die „Gesellschaft der Freunde Kants“ wurde seitdem auch „Bohnengesellschaft“ genannt und das Festessen an Kants Geburtstag „Bohnenmahl“.

Die „Bohnengesellschaft“ war in den 140 Jahren ihrer Existenz bis zum Untergang Königsbergs im Jahre 1945 ein wichtiger Kulturfaktor der Stadt. Sie sorgte z. B. dafür, dass 1824 der 100. Geburtstag des Philosophen festlich begangen wurde. Der „Bohnenkönig“ im Jahre 1836, Karl Rosenkranz, schlug als erster vor, eine Gesamtausgabe der Werke Kants zu veröffentlichen, die im Dezember 1837 erschien. Die „Bohnengesellschaft“ sorgte auch für die Pflege der Grabstätte Kants, beteiligte sich an der Errichtung des Kant-Denkmals von Christian Daniel Rauch und der Anbringung von Kant-Gedenktafeln und richtete in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts erst ein Kant-Zimmer und dann ein Kant-Museum ein. Der letzte Akt der „Gesellschaft der Freunde Kants“ in Königsberg war es, dass  am 12. Februar 1945, dem 141. Todestage Kants, Bruno Schumacher als letzter Königsberger „Bohnenkönig“ am Grabe Kants einen Kranz niederlegte. 

Im Jahre 1946 versammelten sich einige Mitglieder der Königsberger Gesellschaft in Göttingen in der Wohnung des letzten Kurators der Albertina, Friedrich Hoffmann, und beschlossen, am 22. April 1947 wieder ein „Bohnenmahl“ zu veranstalten. Der erste „Bohnenkönig“ außerhalb Königsbergs wurde Kurt Stavenhagen, der am 22. April 1948, heute vor sechzig Jahren,  seine „Bohnenrede“ zu dem Thema hielt: “Kant und Königsberg“. Die Gesellschaft veranstaltete danach das alljährliche „Bohnenmahl“ bis zum Jahre 1973 in Göttingen und ab 1974 bis heute in Mainz. 

Nach Auffassung des Kantforschers Rudolf Malter beginnt die Königsberger Kanttradition unmittelbar nach Kants Tod und endet mit der Zerstörung und Eroberung der Stadt im Zweiten Weltkrieg. Dass man sich in der 1946 in „Kaliningrad“ umbenannten Stadt schon früh des Kant-Grabmals annahm, später ein Kantmuseum einrichtete und in den 70er Jahren mit der Durchführung von wissenschaftlichen Kant-Symposien begann, betrachtet Malter höchstens als indirekte Fortsetzung der alten Königsberger Kanttradition – indirekt deswegen, weil zur Königsberger Kanttradition die durch Jahrhunderte gewachsene Stadt gehörte und die Königsberger Bevölkerung, die in ihrem Geschichtsverständnis und durch familiäre Herkunft sich der 700jährigen Vergangenheit der Stadt verpflichtet wusste. Auch die Fortführung der Kanttradition durch ehemalige Bewohner Königsbergs in Westdeutschland konnte nach Malters Ansicht bloß indirekt sein, weil Königsberg für sie ebenso Erinnerung war wie Kant und das Gedenken an beide immer bestimmt blieb durch das Bewusstsein des unersetzlichen Verlusts. Fast alles, woran sich sinnlich-materiell eine Tradition knüpft, war vernichtet oder verschollen. 

Malter hat in vielen Dingen recht; aber ich bin dennoch anderer Meinung. Obwohl Königsberg zerstört und seine Bevölkerung vertrieben wurde und man 1946 der Stadt noch das letzte nahm, was sie hatte: ihren Namen, so sind doch drei Dinge übriggeblieben, auf die gestützt man die alte Königsberger Kanttradition weiterführen kann. Das erste ist das KantGrabmal am Königsberger Dom. Wie Professor Kalinnikow in einem Aufsatz dargelegt hat, hätte das Kant-Grabmal viele tausendmal zerstört werden können, zuerst durch den britischen Bombenangriff Ende August 1944, der sorgfältig darauf angelegt war, die gesamte historische Innenstadt Königsbergs zwischen dem Nordbahnhof und dem Hauptbahnhof und alle dort lebenden Menschen zu vernichten; dann durch die Erstürmung Königsbergs im April 1945 und in den Jahren nach dem Krieg durch die Politik der  kommunistischen Machthaber, möglichst alle Überreste der deutschen Vergangenheit Königsbergs zu tilgen, was noch im Jahre 1969 dazu führte, dass die Ruine des Königsberger Schlosses gesprengt wurde. Ein Moskauer Professor erzählte mir einmal, dass er im Jahre 1948 in Königsberg gewesen sei und in der Innenstadt kein einziges Haus mehr gefunden habe; man habe nur Ruinen gesehen. Ein einziges Bauwerk sei jedoch völlig unversehrt gewesen: das Grabmal Kants. Professor Kalinnikow hat das in seinem Aufsatz zu Recht als ein Wunder bezeichnet. 

Wenn man Kant als einen Heiligen betrachtet, könnte man meinen, eine Aura der Heiligkeit habe sein Grabmal vor der Vernichtung geschützt. Kant selbst war jedoch dagegen, neben Naturerscheinungen auch noch Wunder anzunehmen, und erklärte den Glauben an Wunder für Aberglauben.  Die Tatsache, dass sein Grabmal als einziges Bauwerk in der Innenstadt Königsbergs nicht zerstört wurde, hat für mich aber eine tiefe symbolische Bedeutung: Die Lehre Kants kann nicht zerstört werden; die Erinnerung an Kant in seiner Heimatstadt kann nicht ausgelöscht werden. Sein Grabmal ist für uns alle ein heiliger Ort.

Kant hat mit eigenen Augen den Dom gesehen, an dem sich jetzt sein Grabmal befindet, und er hat mit eigenen Augen den Turm des Ritterguts Wohnsdorf der Familie v. Schrötter gesehen. Dort hat Kant sich mehrfach aufgehalten und immer sehr wohl gefühlt. Der KantTurm dort ist nach dem Kant-Grabmal am Königsberger Dom das zweite wichtige Element, auf dessen Grundlage man die alte Königsberger Kanttradition weiterführen kann.

Es gibt noch ein drittes Element, das Kant mit eigenen Augen gesehen hat und das deshalb wichtig für eine lebendige Kanttradition ist. Was das ist, werden Sie erkennen, wenn Sie daran denken, dass Kant seine philosophische Methode selbst mit dem Gedanken des Kopernikus verglichen hat: die kopernikanische Wende. Wo lebte denn Kopernikus? Er lebte kaum 70 km von Königsberg entfernt, in Frauenburg. Kopernikus im 16. und Kant im 18. Jahrhundert betrachteten beide den bestirnten Himmel über Ostpreußen. Hier aus Ostpreußen, aus Frauenburg und aus Königsberg, sind die größten Gedanken der Menschheit ausgegangen.  Der ostpreußische Himmel  ist deshalb das dritte Element der lebendigen und ununterbrochenen Königsberger Kanttradition.    

Die heute in Kants Heimatstadt lebenden Menschen sprechen nicht deutsch wie Kant, sondern russisch, aber sie sind stolz darauf, Landsleute Kants zu sein; das heißt: auch sie werden von seinem Geist berührt. Die über 750jährige Geschichte der Stadt haben sie inzwischen zu ihrer eigenen Geschichte gemacht. 

Die familiäre Herkunft der jetzigen Einwohner der Stadt geht allerdings nicht über das Jahr 1945 zurück. Aber unter uns sind heute hier mehrere echte, geborene Königsberger, die wieder einmal in ihrer Heimatstadt sein wollten,  und mehrere Ostpreußen und einige, deren Väter oder Mütter Königsberger sind und die sich aus diesem Grunde der Stadt verbunden fühlen, und sogar direkte Nachkommen von Freunden Kants.  

Malter hatte recht: die jetzigen Einwohner der Stadt allein und die Freunde Kants in Westdeutschland allein konnten die alte Königsberger Kanttradition jeweils nur indirekt fortsetzen. Gemeinsam aber – indem jede Seite beibringt, was der anderen fehlt – können sie die alte Königsberger Kanttradition direkt fortsetzen.  

Aus Liebe zu seiner Heimatstadt ist Kant immer in Königsberg geblieben. Seine Heimatstadt gehört jetzt zu Russland. Der größte deutsche Philosoph, der Verfasser des Traktats „Zum ewigen Frieden“,  führt Russen und Deutsche zusammen. 

Am 22. April 1805 hat hier in dieser Stadt das erste Erinnerungsfest zu Kants Geburtstag stattgefunden. Am 22. April 1948, vor sechzig Jahren,  traf sich die Königsberger Gesellschaft der Freunde Kants zum ersten Mal nach Flucht und Vertreibung in Göttingen zum traditionellen „Bohnenmahl“; die Rede als „Bohnenkönig“ hielt Kurt Stavenhagen. Diese Rede hat Stavenhagen danach zu einem kleinen Buch erweitert. Am 22. April 2008 versammeln sich nun zum ersten Male seit Kriegsende russische und deutsche Kantfreunde in Erinnerung an den Friedensdenker Immanuel Kant im Königsberg der Gegenwart zu einem gemeinsamen „Bohnenmahl“.  

„Traditio“ heißt Übergabe, Aushändigung. Als Zeichen für die gemeinsame Fortsetzung der alten Königsberger Kanttradition übergebe ich heute das kleine Buch von Kurt Stavenhagen  dem Vorsitzenden der russischen Gesellschaft der Freunde Kants, Herrn Boris Bartfeld. Es hat den Titel: „Kant und Königsberg“.  

Gerfried Horst

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