Philosophie

Vorträge von Dr. Manfred Geier zu Immanuel Kants Leben

Kant-Zukunftswerkstatt 2022, 17. September 2022

Einerseits hat auch ein Philosoph, der sich bevorzugt in der Welt der Gedanken, der Ideen und des Geistes bewegt, eine Lebensgeschichte, die biographisch dargestellt werden kann. Andererseits ist jedoch sein Leben so sehr durch seine philosophische Arbeit geprägt, dass es hinter seinen geistigen Leistungen zu verschwinden droht. So ist es, wie bei allen großen Philosophen, auch bei Immanuel Kant der Fall. Nur gewaltsam lassen sich sein Leben und sein Werk voneinander trennen. Wir wollen es aus praktischen Gründen dennoch tun und uns heute stärker auf seine Biographie konzentrieren. Morgen soll es dann bevorzugt um seine Werke gehen. Dabei soll uns im Rückblick auf Kants Lebensgeschichte eine zweite Trennung zur Orientierung dienen, die streng genommen ebenfalls künstlich ist. Denn das eine Leben, das Kant achtzig Jahre lang geführt hat, werde ich in vier Etappen aufteilen, um den Überblick zu erleichtern.

I. Die Jugendzeit. 1724-1746. 

Am frühen Morgen des 22. April 1724 wurde Emanuel Kandt, wie sein Name im Familienbuch geschrieben steht, in Königsberg geboren. An seine Geburt konnte er sich später selbstverständlich nicht mehr erinnern. Aber er stellte im hohen Alter Überlegungen über die Geburt und frühe Kindheit des Menschen an, die sich wie nachträgliche Reflexionen über seinen eigenen ersten Schritt in die Welt lesen lassen. Als Philosoph dachte er über das Ehe- und Elternrecht nach, das es erlaubt, ein Kind in die Welt zu setzen, ohne es gefragt zu haben, ob es geboren werden will. 

War das nicht ein Akt der Willkür, der dem ursprünglichen Wesen jedes Menschen widersprach, als eine autonome Person mit eigenem Willen anerkannt zu werden? War das Elternrecht nicht ein Elternunrecht? Jedenfalls leitete Kant aus dieser anfänglichen Problemsituation eine notwendige Verpflichtung der Eltern ab. Sie haben sich fürsorglich um die Folgen zu kümmern, für die sie mit der Geburt ihres Kindes verantwortlich waren. Von ihnen wird eine Art emotionaler Wiedergutmachung gefordert. Sie müssen den neuen Weltbürger mit seinem Zustand zufrieden machen, so gut sie es können. 

Kant hat seinen Eltern niemals einen Vorwurf für seine Existenz gemacht. Er war ein zufriedenes Kind. Er achtete seinen Vater, den ehrenwerten Handwerksmeister Johann Georg Kandt, der mit der Herstellung von Lederriemen für Pferde, Wagen und Schlitten sein Geld verdiente und seinen Sohn zu einem fleißigen und ehrlichen Menschen zu erziehen versuchte. Und er liebte seine Mutter Anna Regina, die mit ihren Kindern gern die pietistischen Bet- und Bibelstunden besuchte, um ihnen eine fromme Herzensreligiosität zu vermitteln. Sie starb schon früh, als ihr Sohn erst dreizehn Jahre alt war, der sich sein Leben lang dankbar an sie erinnerte: „Ich werde meine Mutter nie vergessen, denn sie pflanzte und nährte den ersten Keim des Guten in mir, sie öffnete mein Herz den Eindrücken der Natur; sie weckte und erweiterte meine Begriffe, und ihre Lehren haben einen immerwährenden heilsamen Einfluß auf mein Leben gehabt.“ 

Einen nachhaltigen Einfluss auf sein weiteres Leben übte auch der Pfarrer Franz Albert Schultz aus, dessen Bibelstunden das kleine „Manelchen“ an der Hand seiner Mutter besuchte. Er erkannte die große Begabung des Jungen und half ihm, als er gerade acht Jahre alt war, von einer einfachen Elementarschule auf das Collegium Fridericianum zu wechseln, ein renommiertes Gymnasium, auf dem er sich auf ein späteres Universitätsstudium vorbereiten konnte. Und so gelang es ihm dann auch, nach seiner Schulzeit im September 1740  sein Studium an der Albertina zu beginnen, der einzigen Universität im östlichen Preußen, in der auch sein Mentor A. F. Schultz als Professor für Theologie lehrte. Es ist unklar, welches Studienfach er belegte. Theologe wollte er jedenfalls nicht werden. Er schien sich für alle Wissenschaften zu interessieren, aber auch für Philosophie und klassische Kultur. Und wieder hatte er das Glück, einen Lehrer zu finden, der ihn auf seinem Bildungsweg unterstützte: den Professor für Logik und Metaphysik Martin Knutzen, der ihn mit den neuesten mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschungen bekannt machte und ihn dazu anleitete, nicht nur das verfügbare Wissen nachzubeten, sondern als Selbstdenker seinen eigenen Verstand zu gebrauchen. Auch gab er ihm Bücher zum Selbststudium zu lesen, die nicht zum Lehrkanon gehörten, darunter die 1687 veröffentlichten Philosophiae Naturalis Principia Mathematica von Isaac Newton. 

Diese Mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie begeisterten den Studenten, weil es Newton zum ersten Mal gelungen war, den Anspruch auf strenge mathematische Berechnungen mit dem mechanistischen Erkenntnisinteresse an kausalen Erklärungen von Ursache-WirkungsZusammenhängen zu verbinden. Und so legte er 1746 statt eines ordentlichen Studienabschlusses seine Arbeit vor, in der er ein mathematischnaturwissenschaftliches Problem zu lösen versuchte: Wie lassen sich die Verhältnisse zwischen Masse, Geschwindigkeit und Bewegungskraft von Körpern messen und berechnen? Und was ist überhaupt „Kraft“? Auf diese strittigen Fragen versuchte „Immanuel Kant“, wie er sich nun nannte, mit seinen Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte eine eigenständige Antwort zu geben, wobei er sich die Freiheit nahm, es mit den Großmeistern der naturphilosophischen Erkenntnis aufzunehmen, vor allem mit René Descartes, Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz. Und der 22-jährige Kant brachte dabei auch seine eigenen Kräfte ins Spiel. Mit großem Selbstbewusstsein blickte er in die Zukunft: „Hierauf gründe ich mich. Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen.“

II. Hauslehrer, Publizist, Magister. 1748-1762.        

Im März 1746, während Kant über die natürlichen Kräfte von bewegten Körpern nachdachte, starb sein Vater an völliger Entkräftung. Er war nun Vollwaise und musste sich auch um seine jüngeren Geschwister kümmern. Ohne richtigen Studienabschluss an einer der drei Universitätsfakultäten konnte er weder Jurist, noch Theologe oder Mediziner werden. Was blieb ihm anderes übrig, als „Hofmeister“ zu werden, um sich um die Erziehung von Kindern aus begüterten Familien zu kümmern. 1748 verdingte er sich beim Pfarrer Daniel Andersch im Dörfchen Judtschen, danach unterrichtete er die jungen Herren von Hülsen in Groß-Arnsdorf, südlich von Königsberg. Sechs Jahre lang brachte er als Hauslehrer auf dem Lande zu. Aber er nutzte seine freie Zeit auch, um sich in der Provinz durch das Studium neuer naturwissenschaftlicher Publikationen selbst weiterzubilden. Er wollte auf der Bahn weiterkommen, die er sich vorgezeichnet hatte. Es waren vor allem kosmologische Neuerscheinungen, die ihn interessierten. Beruflich war er zwar nur auf eine kleine ländliche Existenz eingeschränkt. Aber geistig versuchte er das ganze Universum in seiner Entstehung und Struktur zu begreifen.

1754 kehrte Kant in seine Heimatstadt zurück. Freiberuflich begann er als wissenschaftlicher Publizist zu arbeiten. Das gebildete Königsberger Publikum las gern, was er in den Wöchentlichen Königsbergischen Frag- und Anzeigungsnachrichten über naturkundliche Themen veröffentlichte. Er schrieb über geophysikalische Themen, auch über des schreckliche Erdbeben, das Lissabon 1755 in Schutt und Asche gelegt hatte, wofür er eine rein natürliche Ursache zur Erklärung lieferte, ohne sich auf populäre religiöse Spekulationen einzulassen, als habe ein zürnender Gott die Bevölkerung Lissabons für ihre Untaten bestrafen wollen. Doch all diese Arbeiten verblassten gegenüber jenem genialen Werk Kants, dessen Publikation 1756 eine Sternstunde in der Kosmologie war: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt. In diesem Werk war er durch den unbegrenzten Tiefenraum des ganzen Kosmos und durch die Tiefenzeit einer Naturgeschichte gereist, in der neue Welten entstehen und alte untergehen, in der sich ein anfängliches Chaos zu wohlgeordneten Systemen bildet, die wieder vom Abgrund der Ewigkeit verschlungen werden.

Doch neben seiner publizistischen Tätigkeit dachte Kant weiterhin auch an eine universitäre Karriere. Die Laufbahn, die er sich in seiner akademischen Abschlussarbeit vorgezeichnet hatte, sollte ihn auf eine Professur führen. Deshalb legte er im April 1755 seine Magisterarbeit De igne (Über das Feuer) vor und reichte einige Monate später seine Habilitationsschrift ein: Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (Neue Erhellung der ersten Grundsätze metaphysischer Erkenntnis), die den naturkundlichen Forschungen und Theorien eine erkenntnistheoretisch sichere Grundlage bieten sollte. Diese Arbeiten ermöglichen es Kant, nun als Magister an der Albertus-Universität in Königsberg zu unterrichten. Auf die Professur, die 1756 durch den Tod seines universitären Mentors Martin Knutzen frei geworden war, bewarb er sich vergeblich. (Und es sollte noch sechzehn lange Jahre dauern, die er als Magister mit Lehrbefugnis durchhielt, nur durch das Hörergeld seiner Studenten finanziert, bis er endlich 1770 zum ordentlichen Professor ernannt wurde, im Alter von bereits 46 Jahren.) 

So war Kants Laufbahn, auf der ihn nichts halten sollte, ins Stocken geraten. Er hatte zwar viel geschrieben, aber kam beruflich damit nicht voran. Als Dozent, der seine universitären Lehrverpflichtungen zu erfüllen hatte, kam er sich wie ein Arbeiter am Amboss vor. Jahraus, jahrein hatte er die gleichen Pflichtveranstaltungen anzubieten und durchzuführen. Doch auch in dieser Phase seines Lebens gab es ein überraschendes intellektuelles Ereignis, das ihn auf neue Ideen brachte und zu einer Neuausrichtung seiner geistigen Interessen motivierte. Es geschah 1762, als Kant ein Buch zu lesen begann, das ihm die Welt in einem neuen Licht zeigte und ihn zu einem anderen Menschen werden ließ. 

III. Vom Naturphilosophen zum Menschenforscher. 1762-1781. 

Herbst 1762. Gerade war die deutsche Übersetzung von Jean-Jacques Rousseaus Hauptwerk erschienen: Émile oder Über die Erziehung. Schon die ersten Sätze fesselten Kants Aufmerksamkeit: „Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen. Nichts will er so, wie es die Natur gemacht hat, nicht einmal den Menschen. Er muß ihn dressieren wie ein Zirkuspferd.“ Kants Lesehunger war stärker als die Befolgung alltäglicher Regeln, und so hielt ihn die Lektüre von Rousseaus Émile einige Tage lang sogar von seinen gewöhnlichen Spaziergängen zurück.

Dieses Lektüreerlebnis veränderte Kant. Seine Erkenntnisinteressen begannen sich zu verlagern, und sein Denken nahm eine neue Wende. Fast die ganze erste Hälfte seines Lebens hatte er dem Studium der Natur gewidmet, und er war stolz darauf, was er geleistet hatte. Doch jetzt sah er eine neue Welt, und er wurde ein anderer Mensch. Er wurde zu einem Erforscher der menschlichen Natur, und im Rückblick auf sein bisheriges Leben musste er feststellen: „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bei jedem Erwerb. Es war eine Zeit, da ich glaubte, dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren und ich würde mich weit unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, daß diese Betrachtung allen übrigen einen Wert erteilen könne, die Rechte der Menschheit herzustellen.“

Bis 1762 hatte Kant zu denen gehört, die glaubten, daß nur ihre wissenschaftliche Arbeit den menschheitsgeschichtlichen Fortschritt ermögliche. Er war der „Ehrsucht“ des Gelehrten gefolgt, der so viel mehr wusste als der gemeine Mensch. Durch Rousseau „zurecht gebracht“, durchschaute er nun diese Selbsthochschützung als Irrweg einer narzisstischen Eigenliebe. Dagegen wechselte er nun zur „Ehrfurcht“ gegenüber allen Menschen, die gleiche Rechte haben. Es komme nicht darauf an, nur die theoretischen Erkenntnisse über die Welt zu erweitern. Es komme vielmehr darauf an, „die Rechte der Menschheit herzustellen“. 

Das war der entscheidende geistig-moralische Umbruch in Kants Leben. Er dokumentierte sich auch in mehreren Arbeiten, die er in den kommenden Jahren veröffentlichte. Er begann darüber nachzudenken, was man sein muss, um ein Mensch zu sein, wobei er auf die „moralische Freiheit“ des Menschen besonderen Wert legte. Er stellte Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen an. Er konzentrierte sich auf die Krankheiten des Kopfes, die Menschen in die Irre leiten konnten, von milden Formen der Dummköpfigkeit bis zur zuckenden Tollheit. Er untersuchte die Grundsätze der natürlichen Theologie, die den ursprünglichen religiösen Impuls der Menschen anerkannte und sie nicht durch theologische Dogmatik und kirchliche Autorität zu dressieren versuchte. Und er versuchte sich über die Grundlagen und Antriebskräfte einer Moral klar zu werden, die sich an den menschlichen Empfindungen des Guten orientiert, statt nur vorgeschriebenen Gesetzen und Regeln zu folgen.  

Auch in dieser neuen Phase gab es wieder ein zentrales Werk, das von Kants Wende vom Naturwissenschaftler zum Menschenforscher zeugt. 1755 war es seine Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels gewesen, mit der er Newtons mathematisch-mechanistischen Prinzipien gefolgt war. 1766  wurden anonym seine Träume eines Geistersehers veröffentlicht, eine große psychologische Analyse der Phantasien, Visionen und Halluzinationen des schwedischen Forschers Emanuel von Swedenborg, dem sich die Himmlischen Geheimnisse offenbart haben sollen und der persönlich Christus und Gottvater auf seiner imaginären Reise durch den Himmel begegnet sein will. Dagegen versuchte Kant nachzuweisen, dass Swedenborg sich nur in seine eigene private Welt eingesponnen hatte. Gegen seine in sich eingeschlossene, „geträumte“ Geisterseherei setzte Kant die Welt gemeinsamer menschlicher Erfahrungen und Erlebnisse, gegen das solipsistische Ich das intersubjektive Wir.  

1770 wurde Kant endlich durch eine Kabinettsorder König Friedrichs II. zum Professor Ordinarius für Logik und Metaphysik ernannt. Eigentlich hatte er sich gewünscht, eine Professur für Moral und Sittlichkeit zu erhalten, die ihm jedoch verwehrt wurde. Was konnte er tun, um seine professorale Verpflichtung zur theoretischen Philosophie der Welterkenntnis mit seinem praktischen Erkenntnisinteresse der Menschenforschung zu verbinden, das durch die Rousseau-Lektüre 1762 geweckt worden war? 

Als Kant am 21. August 1770 sein neues Amt antrat, musste er noch eine lateinisch formulierte Inaugural-Dissertation vorlegen. Als Thema wählte er sich ein Thema, in dem er seine Wende von der Welt zu den Menschen unausgesprochen zur Geltung bringen konnte. Logisch-metaphysisch konzentrierte er auf die Form der Sinnen- und der Verstandeswelt und ihre Gründe – De mundis sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. Es war ein folgenschwerer Gedanke, den Kant vor seinen Zuhörern entwickelte. Zwar sprach er weiterhin von der Welt (mundus). Aber das war nicht mehr die Welt, wie Kant sie in seiner großen Kosmologie von 1755 „nach Newtonischen Grundsätzen“ erforscht und erklärt hatte. Jetzt war es die Welt, wie sie menschlichen Subjekten sinnlich erscheint und durch ihren Verstand gedacht werden kann. Kants Aufmerksamkeit hatte sich von einer objektiv gegebenen Welt als alles, was tatsächlich der Fall ist, auf die subjektiven Fähigkeiten des Menschen verlagert. 

Aus Newtons objektiver Raumzeit, die auch existieren sollte, wenn sich nichts in ihr befindet und ereignet, kippte Kant 1770 in eine subjektbezogene Phänomenologie räumlicher und zeitlichen Vorstellungen, deren Formen und Gründe es aufzuklären galt. Denn wenn man die Welt als eine Wahrnehmungsgegebenheitbetrachtet, dann seien Raum und Zeit nur die subjektiven Bedingungen, mit denen der Mensch Ordnung in seine sinnlichen Erfahrungen bringt. Weder gebe es eine objektive, reale Zeit, noch einen objektiven, realen Raum. Zeit und Raum seien nur subjektive, ideale  Schemata, die der Mensch brauche, um sich mit seiner Art der Sinneswahrnehmung und Verstandestätigkeit in seiner Welt orientieren zu können.

Mit diesen Gedanken, die Kant als neu ernannter Professor vortrug, glaubte er sich als Logiker und Metaphysiker qualifiziert zu haben. Ahnte er bereits, dass er sich mit seiner Wende zu den Fähigkeiten und Leistungen menschlicher Subjekte in eine Problemsituation verstrickt hatte, die nicht einfach zu lösen war? Jedenfalls konnte er nicht bei der Behauptung stehen bleiben, dass Raum und Zeit nicht etwas Objektives und Reales sind. Er musste das Spannungsverhältnis klären, das zwischen Objektivität und Subjektivität, bestehenden Welttatsachen und menschlicher Erkenntnisfähigkeit besteht. Das brauchte seine Zeit. Zehn Jahre lang dachte Kant über das Problem nach, in das er sich verstrickt hatte. Öffentlich gab er dazu nichts bekannt. Er publizierte nichts. Der „schweigende Kant“ des Jahrzehnts von 1770 bis 1780 ließ die Freunde und das Lesepublikum die Frage stellen: Hatte Kant nichts mehr zu sagen? War sein Gedankenfluss versiegt, nachdem er sein Ziel einer Professur erreicht hatte? Man begann, sich lustig über ihn zu machen. Schließlich tauchte er 1779 sogar als eine Witzfigur in einem humoristischen Roman auf, in dem ein gebrechliches Männchen als „Professor Großvater“ über alles Mögliche auf eine reichlich verwirrte Weise philosophierte, wobei er sich oft in höheren Unsinn verlor.  

IV. Der späte Erfolg als Vernunftkritiker und Aufklärer. 1781-1804.  1780 muss für Kant der Drang immer stärker geworden sein, seine Gedanken, die er seit 1770 entwickelte, ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Mit einer ungeheuren Energie und gleichsam im Fluge brachte er in vier bis fünf Monaten systematisch zu Papier, was er seit seiner Inaugural-Dissertation Von der Form der Sinnen- und der Verstandeswelt und ihre Gründen als beunruhigendes Erkenntnisproblem skizziert hatte. Im Herbst 1780 war das Manuskript abgeschlossen, und endlich war es dann so weit: Im Mai 1781 erschien auf der Leipziger Ostermesse die erste Auflage der Critic der reinen Vernunft, von Immanuel Kant, Professor in Königsberg, der seit diesem Jahr als der „kritische Kant“ nach seiner langen vor-kritischen Arbeitsphase die moderne Philosophie revolutionierte und eine Spitzenstellung in der Welt des Geistes einzunehmen begann.  

Der Anfang seiner späten Hochschätzung als führender Denker im Zeitalter der Aufklärung, Kant war immerhin bald 6o Jahre alt, verlief allerdings enttäuschend. Mit einer schnellen Anerkennung seiner Kritik hatte Kant zwar selbst nicht gerechnet. Aber er war doch sehr irritiert, dass nur wenige Menschen sein Buch lesen wollten. Selbst die besten Freunde schüttelten den Kopf. Kant versuchte sich mit dem hoffnungsvollen Hinweis zu beruhigen: „Die erste Betäubung, die eine Menge ganz ungewohnter Begriffe und einer noch ungewöhnlichern, obzwar dazu notwenig gehörenden neuen Sprache, hervorbringen musste, wird sich verlieren.“ Denn Kant sah sich dazu gezwungen, neue Leitbegriffe und Argumentationsmuster in die Philosophie einzuführen, um gegenüber der realen Welt, wie sie „an sich“ ist, dem erkennenden Subjekt die zentrale Rolle zuschreiben zu können und seine führende Stellung im theoretischen Erkenntnisprozess zu behaupten. Sie alle tragen Kants Signatur und haben in eigenen Kant-Wörterbüchern ihren Platz gefunden: von A wie „a priori“ bis Z wie „Zweck an sich“;und es verwundert nicht, dass es seit mehr als zweihundert Jahren immer wieder neue Kommentare, Interpretationen und Anleitungen zur Lektüre gibt, um die sprachliche Form und den philosophischen Gehalt der Kritik der reinen Vernunft zu erhellen.

Auch der Verleger war wegen des geringen Buchverkaufs enttäuscht, und es gelang ihm, Kant zu einer populären Fassung seiner Kritik zu überreden, die 1783 erschien. Ihr Titel klang zwar noch unverständlicher als das Original: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Sie trug jedoch dazu bei, Kant als einen Denker anzuerkennen, der etwas zu sagen hatte.

Damit begann die Erfolgsgeschichte von Kants kritischer Philosophie, zu der in den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens auch seine anderen großen Werke beitrugen. 1785 erschien die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die dann 1788 in der Kritik der praktischen Vernunft systematisch ausgearbeitet wurde. So war doch noch die Problematik des guten Lebens in moralischer Hinsicht zu Wort gekommen, die Kant seit seiner Rousseau-Lektüre beschäftigte. 1790 wurde seine dritte große Kritik publiziert: die Kritik der Urteilskraft, in der Kant versuchte, den theoretischen und den praktischen Teil seiner Philosophie zu einem Ganzen zu verbinden, wobei er sich vor allem auf die teleologische Urteilskraft über die Zweckmäßigkeit der Natur und die ästhetische Urteilskraft über das Schöne und das Erhabene konzentrierte.

In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts erschienen dann in rascher Folge Kants rechts- und staatsphilosophische Schriften, die zu Gründungstexten für einen modernen, republikanischen Verfassungsstaat und ein internationales Staatengeflecht (Völkerbund) wurden, wobei seinem philosophischen Entwurf Zum ewigen Frieden (1795) eine besonders nachhaltige Wirkung zukommt, die noch heute eine unüberholte Aktualität besitzt. Auch begann er sich intensiv mit religionsphilosophischen Problemen zu beschäftigten. Ostern 1793 erschien seine Schrift Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft, in der er prüfte, was in religiösen Texten, vor allem des christlichen Glaubens, als vernünftig und „liebenswürdig“ anerkannt werden kann und was man mit guten Gründen abzulehnen das Recht hat.   

Auf den Gehalt und die Geschichte seiner Werke werden wir morgen näher eingehen. Heute möchte ich mit einem Hinweis enden, der Kants lebenspraktisches Engagement als Kritiker betrifft. Denn seine Vernunftkritik war nicht nur eine philosophische Selbstreflexion der menschlichen Vernunft mit ihren eigenen Mitteln. Mit ihr nahm Kant zugleich teil an seiner Gegenwart als einem „kritischen Zeitalter“ hinsichtlich staatlicher Macht und kirchlicher Autorität. In der Vorrede zur ersten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft hat er es 1781 programmatisch festgestellt: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.“ 

Es war dieser kritische Impuls, der das Interesse der 1783 in Berlin gegründeten „Gesellschaft von Freunden der Aufklärung“ weckte, ein Netzwerk von Juristen, Politikern, Theologen, Philosophen, Pädagogen und Ärzten, die sich regelmäßig mittwochs trafen, um im offenen Gespräch herauszufinden, was man gemeinsam für vernünftig halten kann. Als Publikationsorgan hatten sie die Berlinische Monatsschrift gegründet, und als sie den Königsberger Philosophen um einen Beitrag für ihre Zeitschrift baten, sagte Kant gern zu. Im Septemberheft 1784 erschien in der BM seine Beantwortung der Frage: Was ist

Aufklärung? Sie lässt sich wie eine nachträglich Reflexion seines eigenen Lebenswegs lesen, über den er sich schon als junger Student klar gewesen war. Er wollte seinen Lauf auf der Bahn machen, die er sich 1746 vorgezeichnet hatte, „und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen.“ Er hatte sich für das Leben eines Gelehrten entschieden, der frei und öffentlich seinen eigenen Verstand zu gebrauchen weiß. 1784 hat er diese Maxime zur Grundlage einer allgemeinen Aufklärung erklärt. 

Am 22. April 1724 war Emanuel Kandt in eine kleine Königsberger Handwerkerfamilie hineingeboren worden. Als großer Philosoph hat er mit seiner eigenen Kraft alles aus sich selbst gemacht. Nach seinem Tode am 12. Februar 1804 wurde er wie ein König begraben. Der Verkehr stand still, und alle Glocken läuteten, als ein unabsehbarer Zug von Trauernden dem Sarg zum Grabplatz folgte.        

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